Aushalten!
26. April 2020 (Misericordias Domini, Sonntag vom Guten Hirten) · 1. Petrus 1, 21b – 25
26. April 2020 (Misericordias Domini, Sonntag vom Guten Hirten) · 1. Petrus 1, 21b – 25
Lesungen: Ezechiel 34: 2b – 5a; Johannes 10, 11 – 16;
Gnade sei mit euch und Friede durch unseren Herrn Jesus Christus. Amen
Dieser zweite Sonntag nach Ostern hat ein offizielles und ein heimliches Motto.
Bei dem offiziellen geht es um „die Barmherzigkeit Gottes“ (Misericordias Domini), das heimliche heißt: „Der gute Hirte“. In dieser Gestalt wird die Barmherzigkeit greifbar.
Alle Bibeltexte dieses Sonntag haben irgendetwas mit den Hirten und Schafen zu tun.
Hier vorne wird das mit zwei Symbolen angedeutet: Auf dem herabhängenden Tuch ist – wie sehr oft in Brüdergemeinen – das Lamm mit der Siegelfahne zu sehen. Daneben lehnt ein Hirtenstab.
Hirten und Schafherden hat man bei uns nicht mehr jeden Tag vor Augen, wie früher in Israel.
Die Bildwelt ist uns trotzdem nicht fremd.
In den Bibeltexten für diesen Sonntag taucht diese sie ganz unterschiedlich auf.
In dem Predigttext aus dem 1. Brief des Petrus, Kapitel 2, 21 b – 25 kommen auch Schafe vor.
Dieser Bibeltext könnte ein Lied[1] der ersten Christen gewesen sein, das der Briefschreiber[2] in ein Kapitel über das Verhalten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in einer Gemeinde einfügt.
Da gibt es Anweisungen für Eheleute, für Sklaven, für das Verhalten in einem Staat und so weiter. Oft geht es dabei ums Aushalten der Umstände. Zwischendrin steht dieser orientierende Blick auf Christus[3].
Ich lese nach der Basis-Bibel.
21 Denn auch Christus hat für euch gelitten. Er hat euch ein Beispiel gegeben,
damit ihr ihm in seiner Fußspur nachfolgt.
22 Er hat keine Schuld auf sich geladen und aus seinem Mund kam nie ein unwahres Wort.
23 Wenn er beschimpft wurde, gab er es nicht zurück. Wenn er litt, drohte er nicht mit Vergeltung. Sondern er übergab seine Sache dem gerechten Richter.
24 Er selbst hat unsere Sünde mit seinem eigenen Leib hinaufgetragen an das Holz.
Dadurch sind wir für die Sünde tot und können für die Gerechtigkeit leben.
Durch seine Wunden seid ihr geheilt.
25 Ihr wart wie Schafe, die sich verirrt hatten.
Aber jetzt seid ihr zu eurem Hirten und Beschützer zurückgekehrt.
—
[1] Dafür sprechen der der Rhythmus, die gehobene Sprache, die parallel formulierten Sätze und der Wechsel von der ersten in die zweite Person.
[2] Der Brief ist wohl lange nach dem Tod des historischen Petrus in der Regierungszeit von Kaiser Domitian (90-100 n.C.) verfasst.
[3] Wegen des Sonderstellung in dem Kapitel wird der Abschnitt auch ohne Berücksichtigung des Zusammenhangs ausgelegt.
Wir müssen manchmal Sachen aushalten. Wir haben heute natürlich viel mehr Möglichkeiten, widrige Umstände zu ändern. Manche Menschen brauchen auch eher die Botschaft: Wehr dich. Aber auch heute noch können wir nicht alles nach unseren Wünschen gestalten.
Oft müssen wir uns arrangieren mit einem Zustand, den wir momentan nicht ändern können.
Wenn wir nicht das Leben ganz vieler Menschen leichtfertig aufs Spiel setzen wollen, müssen wir noch eine Weile mit schwerwiegenden Einschränkungen leben – solange es keinen Impfstoff gegen den Corana-Virus gibt.
Viele Betriebe dürfen immer noch nicht öffnen. Das ist richtig schwierig für die Hotels und Gaststätten.
Wir müssen es aushalten, dass wir keine Besuche machen können. Das kann dramatische Folgen haben. Wenn man etwa den betagten Eltern im Krankenhaus und im Pflegeheim nicht nahe sein kann, um die jeweilige Einrichtung vor einer Infektionswelle zu schützen.
Wir müssen es aushalten, dass wir hier keine befriedigenden Lösungen haben.
Wir müssen es aushalten, dass wir nicht wissen, wie das alles weitergeht, müssen aushalten, dass auch die Verantwortlichen nicht schon alle Antworten kennen.
Abgesehen von Schlaumeiern, die meinen, die einfache Lösung zu haben.
Wir müssen aushalten, das es auf manche Fragen mehrere mögliche Antworten gibt und wir erst im Nachherein wissen werden, welcher Weg der bessere gewesen wäre.
Der Briefschreiber sagt nun: Im Aushalten ist Jesus uns vorangegangen, wir können seinen Fußspuren folgen.
Das ist im Schnee praktisch, wenn man hinter jemand her gehen kann.
Oder – ein etwas anderes Bild – Jesus hat uns ein Vorbild gegeben in dem Sinne, wie ein Lehrer den Schülern etwas an der Tafel vorschreibt und sie es abschreiben.
Das steckt wörtlich in dem griechischen Wort[1].
Das meint das „er hat uns ein Beispiel gegeben“.
Natürlich sträubt sich etwas im modernen Menschen, etwas nur nachzumachen, was ein anderer vorgemacht hat.
Der moderne Mensch ist individuell und zieht selbstbewusst seine eigene Spur.
Aber wenn wir ehrlich sind, bleibt uns oft gar nichts anderes übrig, als in die Fußspuren anderer zu treten, wenn wir nicht jedes Mal das Rad neu erfinden wollen.
Auch wenn es jetzt darum geht, einen Impfstoff zu finden, ist es zwingend nötig, dass die Wissenschaftler voneinander lernen und sich ergänzen.
—
[1] υπογραμμος
Was lernen wir an diesem Vorangehen von Jesus?
Zunächst:
1. Er ist den Leidensweg gegangen, ohne zu schimpfen, ohne zurückzuschlagen,
nicht weil er zu feige gewesen wäre, sich zu wehren, sondern weil er eine Verantwortung auf seinen Schultern trug, nämlich die Verantwortung für die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen.
Durch seinen Tod sind wir von der Last der Schuld befreit, wir werden geheilt, können wieder atmen, haben die Hände frei für andere.[1]
Wir lernen dabei auch: es geht oft nicht darum, was jemand passend findet für sich, sondern um die Verantwortung, die jemand trägt.
2. lernen wir: durch diesen Weg eines klaglos aushaltenden Lammes wurde Christus zum Hirten.
Im letzten Vers des Abschnitts wird er als Hirte und Bischof bezeichnet.
Und auch wir folgen diesen Fußstapfen: Wir werden von Opfern von Zwängen und Umständen, von Umherirrenden zu Gestaltern.
Noch mal die Worte der Bibel:
Dadurch sind wir für die Sünde tot und können für die Gerechtigkeit leben.
Durch seine Wunden seid ihr geheilt.
25 Ihr wart wie Schafe, die sich verirrt hatten. Aber jetzt seid ihr zu eurem Hirten und Beschützer zurückgekehrt.
Wir sind nicht umherirrende Schafe, sondern Menschen, die einer Spur folgen.
Wir werden selbst zu Hirten.
Letzten Samstag haben wir bei den Zeugnissen des Auferstandenen die anrührende Begegnung von dem Auferstandenen mit Petrus gelesen, der nach seinem grandiosen Scheitern den Auftrag bekommt:
Sorge für meine Lämmer, führe meine Schafe zur Weide[2].
Sie merken, wie der Bibel mit diesem Bild vom Hirten und den Schafen kreativ umgeht:
Wir sind auf der einen Seite Schafe, die Leitung und Fürsorge durch den guten Hirten brauchen, auf der anderen Seite aber auch Hirten, die Verantwortung tragen für andere, jeder und jede in ihrer Weise.
—
[1] „Die christliche Gemeinde hat es immer wieder zu begreifen und in Wort zu fassen versucht, wieso Jesu Tod die Befreiung und Entlastung bringt. Man hat es in die Sprache des Rechts, des Kults, des Kampfes zu sagen versucht, … Die Sache sperrt sich gegen alle Versuche rationaler Aufhellung. Soviel ist sicher: Unsere Sünde sollte nicht so aus dem Spiel kommen, dass Gott sich mit ihr abfinden, sondern so, dass er sie von uns nimmt, …“ (Voigt, das heilige Volk, S. 232)
[2] Joh 21
Auch als Kirche sind wir im Moment zwischen Aushalten und Gestalten.
Die Debatte, wie die politisch Verantwortlichen wieder Zusammenkünfte in den Kirchen, Synagogen und Moscheen zulassen wollen und was hier die Haltung der Kirche selbst ist, läuft gerade.
Denken sie daran, dass für die Moslems vorgestern der Ramadan begonnen hat.
Soll man sich abends zum Essen treffen oder lieber nicht.
Man kann sich vorstellen, dass es viele Auseinandersetzungen darum gibt.
Auch ich werde jetzt ganz oft gefragt: Was macht ihr jetzt?
An diesem Wochenende treffen sich Vertreter der vier Kirchen Baden-Württembergs mit der Landesregierung.
Am Montag soll ein mit der EKD abgestimmtes Gottesdienst-Konzept herauskommen.
Wir können gespannt sein.
Ich muss sagen: ich bin sehr froh, dass sowohl die Kirchenleitung der Brüdergemeine also auch die der Badischen Landeskirche eine sehr besonnene Haltung einnehmen[1].
Wir Pfarrer werden zeitnah informiert und können in Videokonferenzen mitsprechen.
In den Vorgesprächen wurde dafür plädiert, jetzt nicht vorschnell zu Gottesdiensten in den Kirchen zurückzukehren.
Warum?
Abschließend bittet die Brüder-Unität ihren Schreiben:
In einem Fazit von eines badischen Entwurfspapiers heißt es:
„Wir sind dem Staat dankbar, dass es gesetzlich wieder möglich ist, Gottesdienste in unseren Kirchen zu feiern. Aus Solidarität zu anderen Akteuren des gesellschaftlichen Lebens und als Beitrag zur Eindämmung des Infektionsrisikos werden wir aber die Zeit bis Pfingsten als Zeit des Innehaltens gestalten, und das, was zahlreiche Haupt- und Ehrenamtliche in den letzten Wochen gemeinsam an Neuem entwickelt haben, damit Kirche Menschen erreicht, weiter praktizieren und vertiefen.“
Wie gut, dass wir bei Jesus gelernt haben, dass es nicht darauf ankommt,
dass man möglichst gut angesehen wird oder wie man das Lästige möglichst schnell los wird, sondern welche Verantwortung man hat.
Manchmal bedeutet diese Verantwortung: Auszuhalten mit denen, die aushalten müssen.
Vielleicht trägt unser Aushalten auch die Verheißung des Weges von Jesus.
Am Ende stand der Sieg des Lebens. Die Textzeile, die eigentlich in der Brüdergemeine um das Lamm mit der Siegesfahne steht, heißt: Unser Lamm hat gesiegt, lasst uns ihm folgen.
Amen
—
[1] Es gibt in mancher kirchlicher Presse populistische Vorwürfe, die Kirche habe sich freiwillig in die Bedeutungslosigkeit manövriert, die Kirche sehe sich nicht als systemrelevant, die EKD sei zu staatstragend. Siehe IDEA 22. 4. 20
Christoph Huss
Foto: Stephan Klingner