Predigt 11. August 2024
Galater 2, 15-21
Diese Predigt zum Ausdrucken
Liebe Schwestern, liebe Brüder „Es ist eine wunderbare Sache und der Welt unbekannt, die Christen zu lehren, das Gesetz zu ignorieren und vor Gott zu leben, als ob es kein Gesetz gäbe. Denn wenn ihr das Gesetz nicht ignoriert und so eure Gedanken auf die Gnade richtet, als gäbe es kein Gesetz, könnt ihr nicht gerettet werden.“
So beginnt Martin Luther seinen Kommentar zum Galaterbrief, zu dem er ein besonderes Verhältnis hatte, denn der Galaterbrief verkündet das protestantische Verständnis des Evangeliums wie kaum ein anderes Buch im neuen Testament. Als ich den Predigttext für heute las, dachte ich, dass Paulus Martin Luther zitieren würde, denn der Bibeltext könnte von Luther stammen, er ist ja so „lutherisch“. Zu den fünf Versen aus dem Galaterbrief, die wir heute gelesen haben, hat Martin Luther 138 Seiten Kommentar geschrieben. Ich hoffe, Sie haben heute etwas Zeit mitgebracht.
Der Galaterbrief vergleicht zwei Wege, wie der Mensch vor Gott gerecht wird: Aktiv oder Passiv. Aktive Gerechtigkeit bedeutet, dass wir uns für unsere endgültige Rechtfertigung vor Gott auf unsere eigene Erfüllung des Gesetzes verlassen (siehe Gal 3,3.12; 5,2-4). Passive Gerechtigkeit bedeutet, dass wir zulassen, dass jemand anderes – nämlich Gott – unsere Erlösung bewirkt. Aktive Gerechtigkeit bedeutet, dass wir aktiv daran arbeiten, Gottes Zorn zu besänftigen. Passive Gerechtigkeit bedeutet, dass wir passiv im Glauben ein Geschenk annehmen, das wir in keiner Weise verdient haben, weil Gott in Christus gehandelt hat, um uns zu rechtfertigen (siehe Gal 1,3-4; 2,15-16.20-21; 3,2-14).
Diese Unterscheidung ist leicht zu verstehen, aber es ist unglaublich schwierig, sie zu praktizieren. Warum denn? Weil eine natürliche Verbindung zwischen der sündigen menschlichen Vernunft und dem Gesetz besteht. Wir kennen das Gesetz von Natur aus. Regeln, wie wir sie in den 10 Geboten kennen, ergeben Sinn. Sie sind logisch. Sie sind vernünftig. Es ist uns allen offenkundig, wenn wir alle sie folgen, herrscht Eintracht und Frieden zwischen und unter den Menschen. Wir müssen die 10 Gebote und andere vernünftige Gesetze, nur beherzigen, umsetzen und nach ihnen leben. Unsere menschliche Vernunft weiß das. Warum gibt es denn Krieg? Warum gibt es Scheidungen? Warum gibt es Gier? Oder Neid? Alle diese Dinge sind ja äußerst unvernünftig. Und wir – als Menschen – behaupten von uns, wir wären vernünftige Kreaturen.
In der Angst vor dem Gewissen und der Gefahr des Todes schauen wir ganz natürlich auf unsere eigenen Werke, um ewige Hoffnung zu haben. Diese Verbindung ist natürlich. (siehe 2. Korinther 11,1-12,10 und besonders 11,12-15). Wir wollen selbst unser Schicksal in der Hand haben. Das Problem bei einer solchen Hinwendung nach innen ist, dass es in unserem Inneren nichts gibt außer der Sünde und dem Tod, sodass wir keinen Trost finden können, wenn wir dort suchen. Nun wollen bestimmt 50 Prozent von ihnen den Kirchensaal verlassen. Denn über Sünde und Tod wollen wir doch nichts hören. Es ist doch die Ferienzeit!
Es ist aber so, liebe Schwestern und Brüder. Wir wollen selbst alle Probleme – auch mit uns selbst – lösen, denn wir wissen ja was vernünftig ist, was richtig ist, was wir tun müssen.
Das ist das Thema des Galater-Briefs: Der Kampf zwischen aktiver Gerechtigkeitsversuche durch meine Erfüllung des Gesetztes auf der einen Seite und die passive Gerechtigkeitsannahme durch meine Akzeptanz von Gottes Gnade auf der anderen Seite. Dieser Kampf findet in uns allen statt. Es gibt keine dritte Option. Entweder schauen wir auf uns selbst oder wir schauen auf Christus, um unsere Rechtfertigung vor einem heiligen Gott zu erlangen. Aber wenn wir auf uns schauen, wenn wir auf die einzelnen Wellen schauen, die sich über uns brechen, dann ertrinken wir. Aber wenn wir unsere Häupter hoch halten und auf Christus schauen, dann können wir über Wasser laufen.
Die Lösung muss so radikal sein wie das Problem – und Luther – den habe ich nicht vergessen – findet sie in den Wunden des gekreuzigten Gottes. In dieser eindringlichen Szene des Leidens und des Todes ist kein Platz für menschliche Selbstgenügsamkeit, kein Platz für die Verharmlosung von Sünde und Tod. In seinem Galater-Kommentar hebt Luther zwei Versuchungen hervor, mit denen sowohl Gläubige als auch Ungläubige täglich kämpfen. Zuerst ist unsere Neigung, über Gottes nacktes Wesen zu spekulieren, und zweitens ist unsere hoffnungslose Hingabe an unsere eigene Selbstgenügsamkeit.
Für die menschliche Vernunft mit ihren vorgefassten Meinungen über Heiligkeit und ihrer Beschäftigung mit sich selbst könnte Christus kaum anstößiger sein. Was also tut die menschliche Vernunft, um diese Beleidigung zu beseitigen? Sie formt Christus nach ihren eigenen Vorstellungen um. So werden wir von Gott weggeführt, indem wir unseren Blick von Christus abwenden.
Der Sündenfall Adams und Evas – hatte zwei verheerende Folgen: wir verloren die Erkenntnis Gottes; und unser Wille wurde verdreht und hoffnungslos in sich selbst verkehrt. Vor dem Sündenfall hatten Adam und Eva von Natur aus ein richtiges Verständnis von Gott, aber jetzt, ohne dieses richtige Verständnis, neigen wir dazu, in unserer Vorstellung davon, wer Gott ist und was er will, Amok zu laufen. Mit anderen Worten: Wir neigen dazu, über Gottes nackte Beschaffenheit zu spekulieren, anstatt uns auf Gott zu konzentrieren, wie er sich in Christus und der Heiligen Schrift offenbart. Wir fangen mit unseren eigenen Vermutungen über Gott an, statt mit seiner Offenbarung von sich selbst.
Liebe Brüder und Schwestern, das ist dumm. Wir Menschen sind einfach nicht in der Lage, Gott zu kennen, abgesehen von dem, was er über sich selbst offenbart. Doch wir sind viel glücklicher, wenn wir Theorien über Gott aufstellen, bevor wir uns die Zeit nehmen zu verstehen, was Gott über sich selbst offenbart. Wir sind leidenschaftlich von unserer eigenen Weisheit überzeugt. Die menschliche Vernunft will sich selbst schmeicheln mit dem, was sie in jeder Situation weiß, und so wird sie zu ihrem eigenen schlimmsten Speichellecker.
Luther erklärt es so: Das Christentum stellt uns nicht Gott in seiner Majestät vor, wie es Mose tut, sondern Christus, der von der Jungfrau geboren ist, als unseren Mittler und Hohenpriester. Wenn wir in der Gegenwart Gottes gegen das Gesetz, die Sünde und den Tod kämpfen, ist nichts gefährlicher, als sich mit unseren müßigen Spekulationen in den Himmel zu verirren, um dort Gott in seiner unbegreiflichen Macht, Weisheit und Majestät zu erforschen, um zu fragen, wie er die Welt erschaffen hat und wie er sie regiert. Wenn wir versuchen, Gott auf diese Weise zu begreifen, und uns mit ihm ohne Christus, den Vermittler, versöhnen wollen, indem wir unsere Werke, Fasten, Kutte und Tonsur zur Vermittlung zwischen Ihm und uns machen, werden wir unweigerlich fallen, wie Luzifer, und in schrecklicher Verzweiflung Gott und alles verlieren. Denn wie Gott in seiner eigenen Natur unermesslich, unbegreiflich und unendlich ist, so ist er für die Natur des Menschen unerträglich. Wenn Sie also sicher sein wollen und Ihr Gewissen und Ihr Heil nicht gefährden wollen, dann halten Sie diesen spekulativen Geist in Schach. Halten Sie sich an Gott, wie die Heilige Schrift Sie anweist. Beginnen Sie also dort, wo Christus begann – im Schoß der Jungfrau, in der Krippe und an den Brüsten seiner Mutter. Zu diesem Zweck kam er herab, wurde geboren, lebte unter den Menschen, litt, wurde gekreuzigt und starb, damit er sich uns auf jede erdenkliche Weise darstelle. Er wollte, dass wir den Blick unseres Herzens auf Ihn richten und so verhindern, dass wir in den Himmel klettern und über die göttliche Majestät spekulieren. …. Wenn Sie also über die Lehre von der Rechtfertigung nachdenken und sich fragen, wie oder wo oder in welchem Zustand ein Gott zu finden ist, der Sünder rechtfertigt oder annimmt, dann müssen Sie wissen, dass es keinen anderen Gott gibt als diesen Menschen Jesus Christus. Ergreift ihn, hängt euch mit ganzem Herzen an ihn und verschmäht alle Spekulationen über die göttliche Majestät; denn wer die Majestät Gottes erforscht, wird von seiner Herrlichkeit verzehrt werden. Ich weiß aus Erfahrung, wovon ich spreche. Beachtet also in der Lehre von der Rechtfertigung oder der Gnade, dass wir, wenn wir alle mit dem Gesetz, der Sünde, dem Tod und dem Teufel zu kämpfen haben, auf keinen anderen Gott schauen dürfen als auf diesen fleischgewordenen und menschlichen Gott.
Liebe Schwestern und Brüder, unsere einzige Hoffnung liegt in der christlichen Botschaft – einer Botschaft, die in der Geschichte und nicht in einer übersinnlichen, metaphysischen Realität verwurzelt ist.
Das Christentum hat einen fleischlichen Ausgangspunkt: Es beginnt nicht oben, wie alle anderen Religionen; es beginnt unten. Wenn Sie also über Ihr Heil nachdenken und handeln wollen, müssen Sie alle Spekulationen über die Majestät, alle Gedanken an Werke, Traditionen und Philosophie – ja, sogar an das Gesetz Gottes selbst – beiseite lassen. Und Sie müssen direkt zur Krippe und zum Mutterschoß laufen, dieses Kind und die Jungfrau in Ihre Arme schließen und es anschauen – wie es geboren wird, wie es gestillt wird, wie es heranwächst, wie es in der menschlichen Gesellschaft umhergeht, wie es lehrt, wie es stirbt, wie es wieder aufersteht, wie es über alle Himmel aufsteigt und wie es Macht über alle Dinge hat. Auf diese Weise können Sie alle Ängste und Irrtümer abschütteln, so wie die Sonne die Wolken vertreibt.
Für Luther ist der historische Christus der Schlüssel, der unsere Beschäftigung mit uns selbst aufschließt und uns von der Knechtschaft der Sünde, des Todes und des Teufels befreit. Unsere einzige Hoffnung liegt in dem, was außerhalb von uns ist, in Christus; unseren Blick auf den zu richten, der für die Sünden der Welt gekreuzigt wurde, ist die einzige Hoffnung für Ungläubige und Gläubige gleichermaßen.
Liebe Schwestern und Brüder, Jesus weist uns nicht auf Gott hin; er stellt den ewigen Gott selbst in seiner Person dar. Der Blick auf diese Szene der totalen Verwüstung, in der Gott in Christus die Sünden der Welt an seinem eigenen Leib trägt, bedeutet, direkt in Gottes väterliches Herz zu blicken. Hier muss der menschliche Verstand alle seine eigenen Vorstellungen darüber, wer Gott ist und was er für die Menschheit will, über Bord werfen.
Die göttliche Majestät präsentiert sich uns in das Gefäß des menschgewordenen Sohnes. Wir können uns Jesus kaum zu sehr menschlich vorstellen. Die Vereinigung der göttlichen und der menschlichen Natur in einer Person ist es, die uns versichert, dass das Werk Christi für uns Menschen genugsam ist. Diese Vereinigung ist so wundersam, dass die Engel herabsteigen, als gäbe es für sie – und auch für uns – keinen Gott mehr im Himmel, damit wir nach Bethlehem gehen und ihn anbeten und verehren, während er in der Krippe an der Brust seiner Mutter liegt. Gott ist auf die Erde gekommen. Er ist unter uns. Er ist mit uns. Er ist einer von uns geworden.
Leider schafft es die Kirche immer wieder, Jesus bloß zu unserem großen ethischen Vorbild zu machen. Es wird behauptet, dass wir das gottgefällige Leben führen können, das Gott von uns erwartet, wenn wir unser Leben täglich nach seinem Vorbild gestalten. Auf diese Weise erweckt unsere Leben den Anschein von Frömmigkeit und wir sind mit uns selbst zufrieden.
Aber liebe Schwestern und Brüder, wenn wir Jesus bloß zu unserem Vorbild machen, steuern wir die Menschheit auf das, was sie gefangen hält, nämlich das Gesetz. Für die gefallene Menschheit ist das Gesetz ein Richter und Tyrann, der zu Recht einen Fluch über alles ausspricht, was wir sind und tun. Wir missverstehen die wahre Absicht des Gesetzes, wenn wir glauben, es sei uns gegeben, damit wir es erfüllen. Nein, der Sinn und Zweck des Gesetzes besteht darin, uns zu Christus zu führen, der uns vom Gesetz befreit.
So erklärt Luther in seiner charakteristischen Sprache: Als der barmherzige Vater sah, dass wir durch das Gesetz unterdrückt wurden, dass wir unter einem Fluch standen und durch nichts davon befreit werden konnten, sandte er seinen Sohn in die Welt, häufte alle Sünden aller Menschen auf ihn und sagte zu ihm: „Sei Petrus der Verleugner, Paulus der Verfolger, Lästerer und Angreifer, David der Ehebrecher, der Sünder, der im Paradies den Apfel gegessen hat, der Dieb am Kreuz. Kurzum, sei die Person aller Menschen, derjenige, der die Sünden aller Menschen begangen hat. Und sorge dafür, dass du für sie bezahlst und Genugtuung leistest.“ Nun kommt das Gesetz und sagt: „Ich finde ihn als Sünder, der die Sünden aller Menschen auf sich nimmt. Ich sehe keine anderen Sünden als die in Ihm. Darum soll er am Kreuz sterben!“ Und so greift das Gesetz ihn an und tötet ihn.
Durch diese Tat wird die ganze Welt von allen Sünden gereinigt und gesühnt, und so wird sie vom Tod und von allem Bösen befreit. Wenn aber die Sünde und der Tod durch diesen einen Menschen abgeschafft sind, will Gott in uns nichts anderes mehr sehen als die schiere Reinigung und Gerechtigkeit.
Nun eine Frage, und wir kommen zum Schluss: Reden wir hier über einen Kampf um den Glauben, der kulturell an die mittelalterliche Kirche mit ihrer Verehrung von Heiligtümern und Heiligen gebunden ist, oder sind seine Worte auch auf unsere heutige Situation anwendbar? Ich glaube, die menschliche Natur bleibt konstant, Wir sind nicht besser als die Menschen zu Luthers Zeiten oder zu Jesu Zeiten.
Die Brüdergemeine und die badische Landeskirche stehen beide im Erbe des Pietismus, der eine Hinwendung nach innen betont. Auch wenn pietistische Traditionen sich in Einzelheiten unterscheiden, birgt in ihnen immer die Gefahr, dass Jesus vor allem zu unserem Vorbild wird, und das Heil liegt – trotz der ständigen Rede von der Gnade – letztlich bei uns und unserem Tun. Luther warnte ständig davor, Jesus nach unserem Geschmack umzugestalten.
Deshalb ist Luthers inbrünstiger Aufruf, das Fleisch Christi zu betrachten, heute genauso notwendig wie zu seiner Zeit. Unser einziger Trost liegt in einem schändlichen Tod vor zweitausend Jahren und in der Aneignung dieses Todes in Wort und Sakrament, das wir gleich feiern werden.
Und das, liebe Schwestern und Brüder, ist die Lehre der Geschichte vom Pharisäer und Zöllner. Der eine bot seine gute Werke und Verzicht auf schlechte Taten an, um sich zu rechtfertigen. Der Zöllner dagegen bot gar nichts an. Nur die Erkenntnis, dass er Sünder war und auf Gottes Gnade angewiesen war. Und er war es, sagt uns Jesus, der gerechtfertigt nach Hause ging. Nicht der Pharisäer.
Und so müssen wir gegen unsere natürliche Neigung ankämpfen, Jesus zu einem zornigen Gesetzgeber zu machen, den wir besänftigen müssen. Wir müssen lernen, ihn so zu sehen, wie Paulus ihn schildert: Er ist der Gott, der die Strafe für unsere Sünde mit seinem eigenen Blut bezahlt. Nur so können wir beginnen, die uneingeschränkte Freiheit zu begreifen, die der Vater durch den blutigen Tod und die Auferstehung des Sohnes schenkt. Nur wenn wir uns an dieses Bild klammern, können wir schließlich in unserem Kampf gegen das Gesetz und die Anschuldigungen unseres Gewissens mit festem Vertrauen erklären:
Gesetz, du hast keine Gerichtsbarkeit über mich; deshalb klagst und verurteilst du mich vergeblich. Denn ich glaube an Jesus Christus, den Sohn Gottes, den der Vater in die Welt gesandt hat, um uns elende Sünder zu erlösen, die wir von der Tyrannei des Gesetzes unterdrückt werden. Er hat sein Leib für mich gegeen und sein Blut für mich vergossen. Wenn ich deine Schrecken und Drohungen spüre, o Gesetz, tauche ich mein Gewissen in die Wunden, das Blut, den Tod, die Auferstehung und den Sieg Christi ein. O Gesetz, ich will nichts mehr von dir hören. Amen.
Gerald MacDonald
KONTAKT
Zinzendorfplatz 3
78126 Königsfeld im Schwarzwald
Telefon: 07725 9382-0
E-Mail: gemeindebuero@koenigsfeld.org