Zwölf Fundstücke oder Huss, die letzte
Predigt am 17. Juli 2022 (5. Sonntag nach Trinitatis)
Epheser 2,8
Lesung: Genesis 12, 1-4a Abrams Auszug
Predigt am 17. Juli 2022 (5. Sonntag nach Trinitatis)
Epheser 2,8
Lesung: Genesis 12, 1-4a Abrams Auszug
Als Bibeltext für die Predigt lese ich den Wochenspruch für diesen 5. Sonntag nach Trinitatis aus Epheser 2, 8: Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.
Gebet
Liebe Schwestern und Brüder,
im Kurparkgottesdienst vor zwei Wochen wurde die Gemeinde aufgefordert, Dinge aufzuschreiben, die ihnen wichtig geworden sind, „Fundstücke“, und diese mit anderen zu teilen. Aus dem Stapel der Karten, die dabei übrig blieben, habe ich mir einige genommen. Ich will in dieser letzten Predigt hier in Königsfeld vor meinem Ruhestand einige Fundstücke mit Ihnen teilen, die mir irgendwann einmal in den letzten Jahren und Jahrzehnten wichtig wurden: Gegenstände, Bilder, Texte, theologische Einsichten. Diese Fundstücke sollen heute Kommentare zu vier wesentlichen Fragen des Glaubens sein.
Frage 1: Wer sind wir?
Die ersten vier Kapitel der Bibel erzählen uns bildhaft, wie diese Welt entsteht. Gott ordnet das Chaos der Urmasse mit seinem Wort: Tag und Nacht geben Zeit und Rhythmus, Unförmiges wird in Trockenes und Meer, in oben und unten sortiert, sodass Lebensraum entsteht. Der begrenzte und geschützte Lebensraum dieser Erde ist ein Geschenk Gottes, ist überhaupt erst Ermöglichung dieses Lebens. Die Begrenzung (1) unserer Lebenszeit und unseres Lebensraumes ist als Chance, als liebevolle Gabe Gottes anzunehmen und verantwortlich mit Gutem zu erfüllen.
Der Mensch ist aus denselben Elementen wie alle andere Kreatur – und doch einzigartig, Gott und anderen Menschen ein Gegenüber. Der Mensch ist geschaffen zur Beziehung (2), zum Gespräch, zum Vertrauen. Und zur Freiheit, denn Beziehung ist nur möglich in Freiheit. Die vertrauensvolle Beziehung des Menschen zu Gott ist Sinn der Schöpfung. Wie schwer sich allerdings der Mensch mit dem Vertrauen zu Gott tut, zeigt sich schon bei dem Adam und Eva und dann bei Kain, der finster auf den Boden starrt, weil er meint, sein Opfer sei nicht gesehen worden. Die Einladung Gottes, doch sein Gesicht zum Himmel zu heben und ihm sein Leid zu klagen, verhallt ungehört.
Wo Beziehung gelebt wird, bekommt das Leben seine gute Form. Wenn die Bindung an das Zentrum fehlt, kann das Leben nicht rund laufen. Jan Amos Comenius zeigt dies im Bildes des Rades (3). [Fahrradreifen ohne Speichen und Nabe] Mit solch einem Reifen kann man nicht fahren. [Nabe mit losen Speichen]
Das Zentrum der Welt ist Gott. Wir alle sind Punkte auf dem Reifen. Worauf es ankommt, das sind die Speichen, die gute Verbindung der Nabe und des Reifens. Wenn jeder Punkt auf den Reifen diese gute Verbindung zur Mitte hat, dann kann das Rad gut laufen. Das sind wir: Menschen geschaffen zur Beziehung zu Gott und zu Anderen.
2. Was rettet uns?
Zu den rätselhaften Bibelstellen gehört der Johannesprolog, die ersten Kapitel des Evangelium des Johannes mit diesem
1 Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
2 Dasselbe war im Anfang bei Gott.
3 Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.
Das Wort, das in Christus Mensch wird, war schon zu Anfang der Schöpfung da. Die Gnade, die in Jesus menschliche Gestalt gewinnt, macht es möglich, dass Beziehung gelingt. Immer wieder spricht Gott Menschen an, läuft hinter ihnen her, geht auf sie zu. Am eindeutigsten in Jesus Christus. Jesus macht uns in seinem Leben, Leiden und Sterben das Tor wieder auf zu der Barmherzigkeit Gottes.
Er nimmt das Joch (4), das uns niederdrückt, von unseren Schultern [Joch aufhängen], wie sind frei, unserem Blick zu erheben. Eine meiner Lieblingsgeschichten, die diesen Weg in die Freiheit beschreibt, stammt von Friedrich vom Bodelschwingh (5), dazu, was für ihn Gebet bedeutet (Bodelschwingh, „Was heißt beten?“, Haug Nr. 593):
Als ich ein ganz kleiner Junge von vielleicht drei Jahren war, da hatte eines Abends unsere Mutter mein größeres Schwesterchen und mich früh zu Bett gebracht. Wir beiden waren zuerst schnell eingeschlafen, aber dann, nach einer Weile, hat uns etwas geweckt. Wir waren beide ganz wach. Wir saßen aufrecht im Bett und fürchteten uns. Es wurde in der Dunkelheit immer unheimlicher. „Komm“, sagte meine Schwester zu mir, „wir wollen aufstehen und in die Wohnstube geben.“ Das war für mich ein schreckliches Unternehmen. Man musste durch zwei Stuben hindurchgehen, die finster und kalt waren. Aber als die Not immer größer wurde, wagten wir es doch. Wir fassten uns fest an der Hand; und dann pilgerten wir in unseren Nachhemden durch die erste Stube, und dann durch die zweite. Ich fühle noch heute, wie mir das kleine Herz klopfte vor Angst und vor Sehnsucht und vor Erwartung. Aber wie dann die letzte Tür sich auftat und der helle Schein aus der warmen Stube auf die beiden kleinen Gespenster fiel, die vor Kälte zitternd dastanden, als ich dann meinen Vater am Tisch sitzen sah, als er seinen Arm nach mir ausstreckte und mich auf seinen Schoß setzte, da war auf einmal alles wieder gut. „Was wolltest du denn, mein kleiner Mann?“ sagte er und streichelte mir mit seiner großen, zarten Hand über das Köpfchen. „Was wolltest du denn, mein Junge?“ Da hatte ich alle Not vergessen; da hatte ich gar keine einzelnen Wünsche. „Vater“, sagte ich, und die dicken Tränen liefen mir über das Gesicht, „Vater, ich wollte ja nur zu dir.“ – Was heißt beten? Beten heißt: sich aus der Angst der Welt aufmachen und zum Vater gehen. Beten heißt: sehen, wie die Tür sich öffnet, aus der das ewige Licht auf unsere arme, zitternde Gestalt fällt. Beten heißt: sein Haupt neigen, so dass die Hand des Vaters, die gute, starke Hand sich darauf legen kann.
Es rettet uns aus Kälte und Dunkelheit, dass wir uns bei der Hand nehmen und uns aufmachen zum Vater.
3. Was ist zu tun?
Jemand sagte einmal zu mir, ich predige zu wenig, was die Leute tun sollen. Das stimmt. Das habe ich nie getan und auch nie tun wollen. Denn ich weiß es ja nicht. Ich weiß ja nicht, was Gott einem Jeden vor die Füße legt, wohin Jesus ihn oder sie in der Nachfolge ruft, welches der Gottes Traum für jeden einzelnen Menschen ist, den es zu leben gilt.
Mir wurden wichtig Texte wie der von Eleonore von Rotenhan auf dem Kirchentag 1987 in Frankfurt:
Wir brauchen eine Zivilisation der Barmherzigkeit (6).
Sie ist eine Haltung und ein Tun.
Barmherzigkeit ist zärtlich zu dem nächsten Menschen
und sie vernünftig zu dem fernen Nächsten.
Sie ist mehr sanft als gewalttätig,
mehr fröhlich als missgelaunt,
mehr spontan als geplant.
Sie will nicht haben, sondern helfen.
Auch zur Frage, was zu tun ist, das Lied von Zinzendorf (BG 750):
1 Gottes Führung fordert Stille (7), / da man innehält und lauscht, / denn wie leicht wird Gottes Wille / mit der eignen Wahl vertauscht.
4 Alle unsre Menschenwerke / gehen überhaupt nicht gut, / wenn man sie in eigner Stärke / und nicht aus der Gnade tut.
5 Göttliche und innre Dinge / lassen es erst recht nicht zu, / dass man sie mit Sturm erzwinge, / sondern weisen uns zur Ruh.
6 Lass uns immer also handeln / in der kurz bemessnen Frist, / dass wir in dem Lichte wandeln, / Herr, wie du im Lichte bist.
Die kürzeste Antwort zu der Frage, was zu tun ist, fand ich dem Vers von Paul Gerhard (BG 929):
7 Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, / verricht das Deine nur getreu (8)/ und trau des Himmels reichem Segen, / so wird er bei dir werden neu. / Denn welcher seine Zuversicht / auf Gott setzt, den verlässt er nicht.
Zu tun ist das Meine, das Unsere. Und weiter gilt: Zuversicht und Vertrauen.
4. Wo gehen wir hin?
Jedes Begräbnis zwingt einen Prediger, sich mit der Frage zu beschäftigen, wo der Mensch hingeht. Die Bibel reicht uns da eine Vielzahl von Bildern und Verheißungen an. Wichtig für mich ist die Einsicht, dass Raum und Zeit (9) Bedingungen unseres auf diese Weise begrenzten Lebens sind, Gott aber ist jenseits dieser Begrenzungen.
Auch der Mensch, wenn er diese sterbliche Hülle verlässt, teilt diese Jenseitigkeit Gottes. Wir können uns das andere Leben bei Gott schwer vorstellen. Warum dies so ist und gar nicht anders sein kann, erläutert der Priester und Psychologe Henri Nouwen anhand eines Dialogs von Zwillingen (10) im Bauch einer Schwangeren.
Das erste Baby fing an und fragte: Glaubst du eigentlich an ein Leben nach der Geburt?
Das zweite Baby antwortete aus Überzeugung: Ja, natürlich. Unser Leben hier ist nur dazu gedacht, dass wir wachsen und uns auf das Leben nach der Geburt vorbereiten, damit wir stark genug sind für das, was uns erwartet.
Erstes Baby: Blödsinn, so etwas gibt es doch nicht! Wie soll denn das überhaupt aussehen, ein Leben nach der Geburt?
Zweites Baby: Das weiß ich auch nicht. Vielleicht werden wir herumlaufen und mit dem Mund essen.
Erstes Baby: Unsinn! Herumlaufen, das geht doch gar nicht. Und mit dem Mund essen, so eine komische Idee. Es gibt doch die Nabelschnur, die uns ernährt.
Zweites Baby: Doch, doch, es gibt ein Leben nach der Geburt. Es wird eben alles nur ein bisschen anders sein als hier in der Gebärmutter.
Erstes Baby: Es ist noch nie einer zurückgekommen von nach der Geburt. Mit der Geburt ist alles vorbei. Das Leben ist, wie du siehst, Quälerei und dunkel!
Zweites Baby: Auch wenn ich nicht genau weiß, wie das Leben nach der Geburt aussieht, bin ich sicher, dass wir dann unsere Mutter sehen werden und sie für uns sorgen wird.
Erstes Baby: Mutter!? Du glaubst an eine Mutter? Und wo ist sie denn bitte?
Zweites Baby: Na hier, überall um uns herum. Wir sind und leben in ihr und durch sie. Ohne sie können wir gar nicht sein.
Erstes Baby: Quatsch! Ich habe noch nie etwas von irgendeiner Mutter bemerkt, also gibt es sie auch nicht.
Zweites Baby: Doch! Manchmal, wenn wir ganz still sind, kann ich sie singen hören. Oder spüren, wenn sie uns streichelt.
Dass Gott überhaupt oft „geburtlich“ (11), in der Weise einer Geburt handelt, dieses Fundstück verdanke ich der Theologin Ina Prätorius, einer Zürcher Studienkollegin. Nicht nur Weihnachten, auch die Schmerzen des Christus am Kreuz und die leidvollen Wehen der Kreatur tragen in sich die Hoffnung, dass am Ende von Schmerzen neues Leben bei Gott geboren wird. Dort gehen wir hin.
Schluss
Das waren jetzt elf meiner Fundstücke der zurückliegenden Jahrzehnte. Ich hätte noch weitere mitbringen können. Das Kissen, auf dem Jesus im Boot beim Sturm schlief, was die Jünger sehr nachdenklich machte. Oder das große JA Gottes, an den wir unser kleines JA heften können. Oder den Weinstock, der uns lehrt, wie wir es zu etwas bringen können. Aber es wäre wohl doch etwas vermessen, in einer Predigt alle Fundstücke der letzten Jahrzehnte unterbringen zu wollen.
Ebenso gäbe es noch viele weitere Fragen, die zu beantworten wären. Aber es wird wohl so sein, dass wir am Fragen und Suchen bleiben. Hierzu ein letztes Fundstück (12), dass schon mein Vater gerne verwendete, ein Gebet von Hermann Bezzel, ab 1910 Rektor der Diakonissenanstalt Neuendettelsau, wo ich meine ersten Studiensemester verbrachte.
Herr,
gib allen,
die dich suchen,
dass sie dich finden,
und allen,
die dich gefunden haben,
dass sie dich aufs Neue suchen,
bis all unser Suchen
und Finden
erfüllt ist in deiner Gegenwart.
Amen
Christoph Huss