Weil Gott mitleidend beisteht
02.08.2020 · Joh 9,1-7
02.08.2020 · Joh 9,1-7
Andrey Mironov (Ausschnitt) CC BY-SA 4.0
Liebe Gemeinde,
warum ist das Leben so ungerecht? Warum müssen die einen so viele Schicksalsschläge ertragen, während andere scheinbar unbelastet durchs Leben gehen? Diese Frage beschäftigt auch die Jünger Jesu.
Ich lese Joh 9,1-7: Im Vorbeigehen sah Jesus einen Mann, der von Geburt blind war. Die Jünger fragten Jesus: »Rabbi, wer ist schuld, dass er blind geboren wurde? Wer hat hier gesündigt, er selbst oder seine Eltern?« Jesus antwortete: »Weder er ist schuld noch seine Eltern. Er ist blind, damit Gottes Werke an ihm sichtbar werden. Solange es Tag ist, müssen wir die Taten Gottes vollbringen, der mich gesandt hat. Es kommt eine Nacht, in der niemand mehr wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.« Als Jesus dies gesagt hatte, spuckte er auf den Boden und rührte einen Brei mit seinem Speichel an. Er strich den Brei auf die Augen des Mannes und befahl ihm: »Geh zum Teich Schiloach und wasche dir das Gesicht.« Schiloach bedeutet: der Gesandte. Der Mann ging dorthin und wusch sein Gesicht. Als er zurückkam, konnte er sehen.
„Rabbi, wer ist schuld?“ fragen die Jünger. Jesus antwortet sehr kurz, fast schroff. Die Frage der Jünger ist verkehrt: keiner hat gesündigt. Die Blindheit des Mannes hat nichts mit Schuld oder begangener Sünde zu tun. Gottes Taten sollen an ihm deutlich werden. Gottes Taten – Irgendwie scheint es in dem Text kaum um den Blinden selbst zu gehen: es gibt kein Gespräch zwischen Jesus und ihm (erst ganz am Ende vom Kapitel kommt es zu dieser Begegnung), er wird nicht gefragt, ob er geheilt werden möchte, es gibt keine Anmerkungen zu seinem alltäglichen Leben. An dem Blinden soll Gottes Macht deutlich werden. Zeichenhaft geschieht an ihm durch Jesu Wirken, was einmal am Ende aller Zeiten für alle Menschen wahr werden soll: Leid und Tod haben ein Ende, Tränen werden getrocknet, Schmerzen sind vorbei, körperliche Einschränkungen sind vorbei: Lahme gehen, Taube hören und Blinde sehen. An dem blindgeborenen Mann wird in der Begegnung mit Jesus schon vorweggenommen, was allen verheißen ist: Heilung. Die Heilung in unserer Erzählung vollzieht sich in dem Moment, wo der Mann in den Teich steigt, der den Namen „der Gesandte“ trägt. Die Leser und Zuhörer des Evangelisten Johannes fühlten sich an die Taufe erinnert und das war beabsichtigt. Menschen erfahren Heilung, indem sie sozusagen in Christus eintauchen.
Soweit zu dem Blinden, der durch Jesus geheilt ist. Was aber ist mit dem Leid, das Menschen ertragen müssen? Was ist mit den vielen Situationen, in die Gott nicht helfend eingreift?
Wer hat Schuld, wenn jemandem etwas Schlimmes passiert? Eine Abiturientin hatte dieses Thema in ihrem mündlichen Abitur. Sie bezog sich auf das Buch eines Rabbiners in Amerika, Harold Kushner mit dem Titel: „Wenn guten Menschen Böses widerfährt“.
Harold Kushner lässt in diesem Buch die Leser an seinen Gedanken Anteil haben, die er sich wegen der angeborenen Krankheit seines Sohnes machte.
Als sein Sohn Aaron drei Jahre alt war, wurde der Familie die Diagnose Progerie mitgeteilt. Das bedeutete, dass bei Aaron schon im Kleinkindalter der Alterungsprozess eingesetzt hatte. Die Haare hatten bereits angefangen, wieder auszufallen, er würde nicht größer als einen Meter groß werden und er hatte nur eine Lebenserwartung von zehn bis zwölf Jahren.
Harold Kushner beschreibt, wie ihn bei dieser Diagnose ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit überkam: was hatte er falsch gemacht? Womit hatte er diese Strafe verdient? Er und seine Frau waren doch gute Menschen?
Guten Menschen sollte es gut gehen und schlechten Menschen schlecht, alles andere wäre ungerecht. Aber Gott kann nicht ungerecht sein. Also muss jemand doch etwas verkehrt gemacht haben, wenn es in seinem Leben nicht gut geht. Aber seine Frau und er haben das Schicksal ihres Sohnes nicht verdient, dagegen wehrt er sich genauso wie Hiob gegen die Vorwürfe seiner Freunde.
Schließlich kommt Kushner für sich zu dem Ergebnis, dass Gott nicht der ist, der Böses verursacht. Gott kann nicht für das Leid in der Welt verantwortlich gemacht werden. Zwei Faktoren verursachen Leid in unserem Leben: die Naturgesetze und die Freiheit der Menschen. Schlimme Sachen geschehen zum einen, weil auf unserer Erde die Naturgesetze in Kraft sind. Weil hier auf der Erde Schwerkraft herrscht, stürzen Flugzeuge vom Himmel, wenn die Motoren versagen. Weil kalte und warme Luftmassen entstehen und aufeinandertreffen, gibt es Stürme und Unwetter und so weiter. Zu den Naturgesetzen gehören auch Krankheiten. Dass wir Menschen so leben können, wie wir es tun, ist die Folge von hochkomplizierten und komplexen Entwicklungen und Zusammenhängen. Wenn es nur an einer winzig kleinen Stelle schief geht, kann es sein, dass alles nicht mehr stimmt. Das sind Naturgesetze, in die Gott (in der Regel) nicht eingreift. Und auch in die Freiheit des Menschen greift er nicht ein. Das ist der andere Faktor. Gott lässt es geschehen, dass Menschen anderen Menschen Böses antun. Kein Mensch ist eine ferngesteuerte Marionette. Und so haben die Menschen die Möglichkeit, Gutes oder Schlechtes zu tun. „Warum dann aber an Gott glauben, wenn der einen nicht vor Schicksalsschlägen bewahrt?“, fragt Kushner.
Wir Christen haben an der Stelle den leidenden Gottessohn vor Augen. Gott leidet selber in Christus und steht so allen bei, die Schlimmes ertragen müssen. Gott überwindet letztlich in der Auferstehung alles Leid.
Kushner kommt zu folgender Antwort: Es ist gut, an Gott zu glauben, weil Gott den Menschen, die Schweres durchmachen, mitleidend beisteht. Gott gibt Menschen im Gebet die Kraft, die sie nötig haben. Er kann andere Menschen schicken, die unterstützen und helfen und beistehen. Ein chassidischer Rabbiner sagte einmal: „Menschen sind die Sprache Gottes“. Und Kushner erzählt davon, wie andere Menschen seiner Familie zu Gottes Stimme für sie wurden und sie haben spüren lassen, dass sie nicht allein waren: der Mann, der für Aaron einen Tennisschläger für seine Größe passend machte, eine Frau, die ihm eine kleine Violine schenkte, ein Erbstück ihrer Familie, und die Kinder, die sein Äußeres und seine Behinderung übersahen und mit ihm im Garten spielten.
Jesus sagte von dem Blinden: „Er ist blind, damit das Wirken Gottes an ihm sichtbar wird.“ Harold Kushner schreibt am Ende seines Buches: „Genauso fest glaube ich daran, dass Aaron Gottes Absichten dienlich war, weil er so tapfer seine Krankheit und alles, was mit seinem sonderbaren Äußeren zusammenhing, ertrug. Ich weiß, dass seine Freunde und Schulkameraden von seinem Mut und der Art und Weise, wie er trotz seiner Behinderung ganz bewusst alles miterleben wollte, beeindruckt waren. Ich weiß, dass diejenigen, die unsere Familie kannten, durch unser Beispiel die Schwierigkeiten in ihrem eigenen Leben hoffnungsvoller und mutiger bestanden. Für mich ist das der Beweis, dass Gott die Menschen auf Erden veranlassen kann, anderen Menschen in Not zu helfen.“
Jesus tut das Wunder an dem Blinden als Zeichen dafür, was bei Gott möglich ist. Und so können auch wir unser Leben leben: als Zeichen, wie es möglich ist mit dem, was Gott uns zumutet zu leben, ohne bitter zu werden, ohne auf Dauer zu verzweifeln, sondern Gott für alles Schöne zu danken und um Kraft zu bitten, wo wir Schweres aushalten müssen. Amen.
Annerose Klingner-Huss