Singen – sich einloggen in der Wolke der Zeugen
02.05.2021 (Kantate),
Mt 21, 14 – 17
02.05.2021 (Kantate),
Mt 21, 14 – 17
Einleitung
Kantate, singt!
Liebe Schwestern und Brüder,
wie gerne würden wir das wieder zusammen tun! Denn wenn sie dürfen, singen im Schnitt eine Million Gottesdienstbesucher sonntags quer durch die evangelischen Kirchen und Gemeinschaften in rund 20.000 Gottesdiensten.
Es gibt schätzungsweise sieben Millionen haupt- und ehrenamtliche Musiker in Deutschland. Sie musizieren in Orchestern, in Chören und solo. Musik nimmt Menschen mit, schafft Stimmungen und bewegt die Hörer durch ihre Texte. Selbst zu singen bereichert uns.
Was für ein Drama, dass es seit einem Jahr kaum noch möglich ist, gemeinsam zu singen. Und wie absurd, heute nun schon zum zweiten Mal in dieser Pandemie Sonntag Kantate zu begehen ohne Chor- und Gemeindebesang. Wie sehr sehnen sich viele Menschen danach, endlich wieder im Gottesdienst gemeinsam singen zu dürfen.
So singen wir momentan jede und jeder für sich, aber immerhin zur selben Zeit dasselbe Lied, angeleitet durch die Orgel. Wir hier mit wenigen Mitwirkenden im Kirchensaal, Sie zuhause alleine oder in der Familie.
Als Predigttext für den heutigen Sonntag habe einen Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium gewählt. Es ist nicht der vorgeschlagene, weil mir dieser zu nahe am Palmsonntag war, der wir ja erst vor wenigen Wochen gegangen haben. Aber er ist ähnlich und gehört zu den weiteren möglichen Texten dieses Sonntags.
Nach dem Einzug Jesu in Jerusalem entsteht um Jesus eine recht aufgeregte Stimmung. Als ihn sein Weg in den Tempel führt, vertreibt er dort erst einmal die Geldwechsler und Händler. Dann setzt der Bericht aus dem Matthäusevangelium 21 mit dem Vers 14 fort:
14 Da kamen im Tempel blinde und gelähmte Menschen zu Jesus, und er heilte sie.
15 Die führenden Priester und Schriftgelehrten sahen die Wunder, die Jesus tat. Sie hörten auch, wie die Kinder im Tempel laut riefen: »Hosianna dem Sohn Davids!« Darüber ärgerten sie sich sehr.
16 Sie sagten zu Jesus: »Hörst du, was sie rufen?« Jesus antwortete: »Ja! Wisst ihr denn nicht, was in der Heiligen Schrift steht: ›Aus dem Mund von kleinen Kindern und Säuglingen lässt du dein Lob erklingen.‹«
17 Damit ließ Jesus sie stehen und verließ die Stadt. Er ging nach Betanien und übernachtete dort.
1. Singen verboten
Der Gebetsruf der Kinder im Tempel, der Jesus als Davids Sohn bezeichnet und mit den Hosianna von ihm Hilfe erbittet, ist in doppelter Weise ärgerlich für die religiösen Führer. Die Kinder sprechen etwas aus, was Aufsehen erregen muss: dieser Jesus soll der erhoffte Retter der Welt, der Messias sein.
Außerdem steht Kindern eine solche theologisch brisante Aussage nicht zu; sie sind weder bibelkundig noch rechtsfähig. Jesus, verbiete es ihnen. Der aber antwortet mit einem bibelkundigen Wort aus den Psalmen (8,3):
›Aus dem Mund von kleinen Kindern und Säuglingen lässt du dein Lob erklingen.‹«
Dass Gesang gefährlich ist und verboten werden muss – darauf muss man erst einmal kommen. Obwohl: nicht erst der Infektionsschutz hat Menschen dazu veranlasst, Gesang zu verbieten. Singen war in Diktaturen oft die letzte Form des Widerstandes und wurde entsprechend bekämpft. Erst kürzlich haben Frauen in Minsk in Belarus ein „Singen gegen die Diktatur“ angestimmt.
Auch in den Kirchen war es nicht immer gern gehört. In der reformierten Kirche gab es schon einmal ein Singverbot, das ist jetzt knapp 500 Jahre her. Der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli verbannte 1525 die Musik gleich ganz aus seinen Gottesdiensten im Grossmünster. Der Grund dafür war damals kein Virus, das sich andernfalls verbreitet hätte. Vielmehr fürchtete der Reformator, dass die Musik das biblische Wort übertöne: Alles war ihm zu laut und zu pompös. Man sollte dem Gotteswort nur schweigend und andächtig begegnen, in stillem Gebet.
Dafür ließ der Reformator nicht nur den Gesang verstummen, er befahl auch den Ausbau von Orgeln – keine Musik sollte mehr die Andacht „stören“. Interessant ist die Tatsache, dass damals trotz Zwinglis Singverbot in der Kirche in der Stadt Zürich erstaunlich viele Psalmenbüchlein verkauft wurden. Die Menschen pflegten eben das häusliche Singen; man sang diese Lieder zur Erbauung daheim.
Die Brüdergemeine sah es geradezu umgekehrt. Zinzendorf fand das Singen viel wichtiger als das Predigen. Eine Predigt konnte man seinetwegen ruhig einmal verschlafen, solange man die Singstunde nicht versäumte.
Was ist das denn nun mit dem Singen, dass Zinzendorf wie schon Luther vor ihm es so hoch schätzte?
2. Die Kraft des Singens
Ich bekam dieser Tage einen Artikel des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa zugeschickt. Er beschäftigt sich damit, was diese Zeit mit unserer Gesellschaft macht. In einem Abschnitt ging es dabei um das Atmen, und das tun wir beim Singen ja besonders viel:
Die Grundbeziehung zur Welt ist das Atmen. Und die fundamentalste Form der Weltbeziehungsstörung ist,
wenn ich dem Atmen nicht mehr trauen kann, wenn ich nicht mehr unbesorgt ein- und ausatmen kann.
Ich brauche jetzt einen Filter zwischen mir und der Welt.
Das ist eine größtmögliche Verunsicherung, denn der Erdboden und die Luft sind das Fundamentalste, was wir kennen.
Ich kann mir selbst nicht mehr trauen – vielleicht ist das Virus schon in meinem Körper.
Und ich kann den anderen nicht mehr trauen – vielleicht stecken sie mich an.
Wenn die Weltbeziehung von einem derart fundamentalen Misstrauen geprägt ist, habe ich auch wenig Grund, meinen Politikern zu trauen.
In dieser Verunsicherung des Atmens sieht Hartmut Rosa einen Grund für das Misstrauen und die Wut in vielen Menschen. Das viele Atmen, die Resonanz, die es im ganzen Körper erzeugt, macht Singen so gesund. Das kann man immer wieder lesen. Es macht einen selbst lebendig, wach und entspannt zugleich. Es bringt einen in gewisser Weise in Verbindung mit sich selbst.
Wie das Atmen hat das Singen aber noch ganz andere verbindende Funktionen. Mit anderen, heute und von früher, und mit Gott. Im gemeinsamen Singen sind die Sängerinnen und Sänger mit anderen Stimmen verbunden.
Man klingt zusammen, schließt sich zusammen, verbindet sich. Diese Gemeinschaft erzeugt wieder eine Resonanz in uns selbst. Eigenes Leid wird geteilt, die Freunde andere fließt in uns zurück.
Es bildet sich im Gesang auch eine Gemeinschaft über die Zeiten hinaus. Wir leihen uns Wort und Melodien von anderen Menschen. Ich bin immer beeindruckt, wenn ich unter einem Lied die Bemerkung lese: Kempten 1000 nach Christus Wer hat sich seitdem diese Melodie geliehen, im Mittelalter, in Pestzeiten, in der Reformation, in der Ausklärung, in Kriegs- und Krankheitszeiten.
Oder die Worte!
Immer wieder sind es Worte von Paul Gerhardt, Gerhard Tersteegen, Jochen Klepper oder Huub Oosterhuis, die uns helfen, unsere Gefühle vor Gott in Wort zu bringen. Glaube lebt ja nicht nur von den eigenen Erfahrungen, sondern auch von den Erfahrungen Anderer um uns und vor uns.
Im Hebräerbrief ist die Rede von der Wolke der Zeugen. Auch das ist eine „Cloud“, wie man sie heute Internet kennt, ein digitaler Ort jenseits unseres eigenen PC, in dem Dateien abgelegt und abgerufen werden können. Und wie können wir uns in Wolke der Zeugen einloggen? Zum Beispiel über den Gesang. Im Singen bekommen wir Zugang zu den Erfahrungen Anderer.
Das ist die verbindende Funktion des Singens. Mit anderen, heute und von früher, und mit Gott. Im Singen entsteht eine Verbindung zwischen uns und Gott. Ähnlich wie im Gebet. Wie oft haben wir das erlebt, dass ein Lied das Vertrauen zwischen und Gott verstärkt hat. Wir bekommen Zugang zu Gott und Gott zu uns, zu unserem Denken und Fühlen.
3. Kreativ bleiben
Im letzten Jahr haben wir öfter Singstunden gehalten, in den wir nicht gesungen haben. Wissen Sie, was erstaunlich war? Man hätte ja meinen können, dann kommt keiner. Aber es waren oft genauso viele Gemeindeglieder da wie vor der Pandemie, als wir singen durften. Wir haben immer gesagt: wir singen im Herzen mit.
So wie wir in Kolosser 3 ermutigt werden: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.
Es ist gut, dass wir die Flinte nicht ins Korn geworfen und das Singen gelassen haben. Wir singen in den Herzen, wir singen zuhause, vor dem PC, wie singen mit wenigen auf der Empore, wir singen im Wald, im Sommer im Pfarrgarten und im Herbst auch wieder gemeinsam hier im Kirchensaal. Es ist gut, dass wir kreativ mit dem Gesang umgehen und uns nicht verdrießen lassen von dem, was im Moment nicht geht. Singet dem Herrn ein neues Lied, oder singt ihm die alten Lieder neu und anders, denn er tut Wunder.
Amen
Christoph Huss