Seid barmherzig
1. Januar 2021, Neujahr
Predigt: Lukas 6,36
1. Januar 2021, Neujahr
Predigt: Lukas 6,36
Liebe Schwestern und Brüder,
ein gesegnetes neues Jahr Ihnen allen. Ich wünsche es Ihnen und wir wünschen uns das gegenseitig. Aber wir sind noch nie, und das gilt wohl für uns alle, so in ein neues Jahr gegangen wie in diesem Jahr. Wir haben Erfahrungen gemacht, die wir nicht für möglich hielten, wir haben uns einschränken müssen, weniger finanziell als vielmehr sozial, wie sonst nie. Und auch die Kirche, unseren Glauben, hat es gewaltig getroffen. Lange, wie jetzt wieder, konnten wir keine Gottesdienste besuchen. In anderen Zeiten durften wir nicht singen und uns erst recht nicht nahekommen, oder gar herzlich grüßen. Wie soll man da Gott loben können, wie uns für sein Wort öffnen, wie Gemeinschaft der Glaubenden erleben? Es schränkt uns nicht nur ein, es frustriert uns, es nimmt uns etwas von unserem Halt im Glauben. Und wie sollen das nur die empfinden, die, wie die meisten Älteren, auch per Internet nicht teilnehmen können?
Aber auf der anderen Seite ist die Gemeinschaft unter Christen ja nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist unser persönlicher Glaube, unser ganz eigenes Verhältnis zu Jesus, unsere Gewissheit im Herzen. Kann uns die eine Pandemie rauben, eigentlich doch nicht. Nun verhält man sich verkehrt, wenn man eine Seite der Münze für die ganze hält. Aber mitunter, wie jetzt, sind wir gezwungen, uns mehr mit der einen Seite unseres Glaubens zufrieden zu geben. Oder sind es nicht gerade Zeiten wie diese, die uns beibringen, auszuweichen und neue Wege zu suchen. Es gibt Video-Konferenzen, ein Telefon hat jeder. Und größtenteils haben wir jetzt gelernt, was so etwas wert ist.
Nun aber zu unserer Jahreslosung. Sie wird nicht in Herrnhut gezogen, sondern seit 1970 von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen ausgewählt. Ebenso wie die Brüdergemein-Losungen zu Beginn heißt es Losungen im Sinne von Parolen, Leitworten und nicht im Sinne von Auslosung. Im letzten Jahr feierten die Jahreslosungen ihr 90-jähriges Jubiläum. Otto Riethmüller hat sie als Erster herausgegeben. Wie sehr hätten wir uns jetzt ein richtungweisendes, mutmachendes Wort gewünscht. Wie z. B. Gott spricht: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ 2016 oder Jesus Christus spricht: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ 2012 „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ 2008 „Christus ist unser Friede.“ 1994 „Suchet mich, so werdet ihr leben.“ 1978 Aber wie auch die täglichen Losungen, sollen wir sie ja nicht nur als bestätigend und verstärkend nehmen, sondern auch als Herausforderung, Überprüfung unserer Haltung, sogar als Wink, uns anders auszurichten.
Unsere Losung nehmen wir ja zu Recht als ein göttliches Wort für uns, unser Leben und unsere Gemeinschaft auf. Es weist uns die Richtung. Und das heißt in diesem Jahr: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Lukas 6,36
Ein Wort Jesu aus der Feldrede, was bei Matthäus Bergpredigt heißt. Schon das Wort „barmherzig“ kann Außenstehende irritieren. Außerhalb der Bibel kommt es so gut wie nicht mehr vor. Und doch lässt es sich kaum anders ausdrücken, was gemeint ist. Im letzten Dachreiter, der ja auch im Internet zu lesen ist, sind übrigens drei hilfreiche Artikel dazu. Es mag uns irritieren, aber im Koran wird Gott immer wieder als der „Allbarmherzige“ genannt. Diese Kennzeichnung wird dort öfter für „Gott“ verwandt als das uns bekannte Wort Allah. Im Islamismus sehen wir genau das Gegenteil von Barmherzigkeit. Aber gibt es nicht auch im Christentum, nicht nur in der Geschichte, genügend Erscheinungen, von denen wir sagen würden, dass sie ja nun wirklich nichts mit der biblischen Botschaft zu tun haben? Man denke nur an die Evangelikalen in den USA im letzten Wahlkampf.
So wie wir lieben sollen, weil Gott und zuerst geliebt hat, (1. Joh 4,19) so sollen wir barmherzig sein, wie der himmlische Vater zu uns barmherzig ist und war. Von Adam bis zu den Aposteln können wir lesen, wie Gott gegenüber seinem Volk barmherzig, helfend, vergebend war. Und das hat ja nach der Zeit der Bibel nicht aufgehört. Wie oft musste Gott zurechtbringen, was sein Volk und seine Kirche versäumt hatten, ja sich versündigt hatten, Treue und Gehorsam aufgekündigt hatten. Eine Geschichte ständigen Neuanfangs, von Vergebung und Barmherzigkeit.
Ist uns das fern, weil wir das in unserem Leben so nicht erkennen? Oder ist es nicht Gottes Barmherzigkeit, die uns überhaupt das Leben gab, die es uns so leben ließ, die uns vor Schlechterem bewahrte? Verdanken wir nicht unser ganzes Leben seiner Gnade? Hatten wir nicht genügend Beinaheunfälle, in denen uns ein Engel geschützt hat? Auch wir leben doch aus der Vergebung. Daraus, dass Gott uns treu ist, vielmehr als wir ihm treu sind. Haben wir nicht so viel alte Ehepaare, deren Leben das bestätigt, dass Gottes Hilfe die Basis für das Zusammensein gewesen ist? Seine Barmherzigkeit hat uns in unserem Ergehen umgeben wie ein wärmender Mantel. Und das ist doch nicht nur ein uraltes biblisches Wort, sondern auch unsere persönliche Erfahrung, dass unser Erlöser lebt. Und weil wir diesen Herrn haben, der sich unser als Erbarmer annimmt, dürfen wir auch in der jetzigen Lage Hoffnung behalten, was auch kommen mag.
Seid barmherzig. Mit unseren Familienangehörigen, mit schwierigen Nachbarn, mit Menschen, die gemieden werden. Im Großen wie im Kleinen. Tatsächlich begegnen wir unentwegt Taten und Haltungen der Barmherzigkeit. Wie viel wird jetzt von den Pflegekräften gesprochen. Zu Recht. Aber manchmal sollten Barmherzige auch ordentlich bezahlt werden.
2015 haben wir ungeahnte Hilfsbereitschaft gegenüber der Flüchtlingswelle erlebt. Unzählige waren bereit, sich einzusetzen. Erst der Druck der öffentlichen Meinung in der Folgezeit auf die Politik bremste das wieder ab. In Königsfeld haben wir den Eindruck, dass ausreichend Helfer für geflüchtete Jesiden bereit waren. Integration ohne Schlagzeilen, die gelingt. Wir alle kennen den barmherzigen Samariter. Umfassende Hilfe, weil er eben Hilfe braucht.
Als ich zu Beginn in Tansania einen Nachhilfelehrer für Swahili hatte, wollte ich ihn am Monatsende bezahlen. Aber er sagte: „Ich will kein Geld von Dir. Als ich zum Studium nach Deutschland kam, hatte das Goethe-Institut vergessen, mich abzuholen. Aber ein Ehepaar nahm mich vom Flughafen mit nach Hause für eine Woche in ihr Haus. Jetzt helfe ich Dir.“
Wir müssen nicht nur an Albert Schweitzer denken, der ja deshalb in Afrika als Arzt helfen wollte, weil er das Unrecht, dass Weiße Afrika angetan hatten, zu seinem Teil wieder gut machen wollte. Das war es, was für ihn Nachfolge Jesu war. Im selben Lukas-Kapitel steht auch die Goldene Regel. „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, also tut ihnen auch.“ (Lukas 6, 31) In unseren Sprichwörtern heißt das: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Die sieben Werke der Barmherzigkeit sind zum Teil auch in unserem Kapitel genannt: die Hungernden speisen, den Dürstenden zu trinken geben, die Nackten bekleiden, die Fremden aufnehmen, die Kranken besuchen, die Gefangenen besuchen, Tote begraben. Eigentümlicherweise scheint sich an den Bedürfnissen in den letzten fast 2000 Jahren so viel nicht geändert zu haben.
Barmherzigkeit ist nicht nur ein Tun. Erst recht keins, das man der Diakonie oder Caritas überlassen kann. Es ist eine Haltung, eine Einstellung. Und die Bibel sagt nicht, dass das nur für den notleidenden Nächsten gilt, es gilt auch für die Erziehung der eigenen Kinder, für unser Verhalten in Wirtschaft und Beruf und natürlich für unsere Gesellschaft. Wo finden wir diese Solidarität z. B. in den griechischen Flüchtlingslagern, im Reagieren auf die Flüchtlingsströme aus Ländern, die unter Hunger und Unterdrückung leiden? Bestimmt da nicht sogar Hartherzigkeit die Politik? Und damit wollen wir die Werte des „christlichen Abendlandes“ hochhalten?
Die Losung will unser Denken und Tun besonders in diesem Jahr leiten. Barmherzig sein, wie Gott uns gegenüber barmherzig ist. Tun wir es – mit Gottes Hilfe, unter seiner Leitung. In diesem Sinne ein gesegnetes neues Jahr. Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Amen
Kurt Rittinghaus