Sei kein Schaf
18.04.2021 (Mis. Dom.),
Ez 34: 1-6. 9-15
18.04.2021 (Mis. Dom.),
Ez 34: 1-6. 9-15
Der heutige Predigttext steht beim Propheten Ezechiel. Das Sonntags-Thema vom Guten Hirten wird hier zur Kritik an denen, die ihre Hirtenamt vernachlässigen oder missbrauchen. Ich lese nach der Basisbibel.
1 Das Wort des Herrn kam zu mir:
2 Du Mensch, rede als Prophet zu den Hirten von Israel. Ja, rede als Prophet und sag zu ihnen, den Hirten: So spricht Gott, der Herr! Ihr Hirten von Israel, ihr weidet euch ja selbst. Weiden Hirten sonst nicht die Schafe?
3 Ihr aber esst das Fett und macht euch Kleider aus der Wolle. Doch ihr weidet die Schafe nicht!
4 Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt und die Kranken nicht geheilt. Verletzte habt ihr nicht verbunden und verirrte Schafe nicht eingefangen. Schafe, die sich verlaufen haben, habt ihr nicht gesucht. Mit Stärke und Gewalt wolltet ihr sie beherrschen.
5 Sie haben sich zerstreut, weil kein Hirte da war, und wurden zum Fraß für alle Raubtiere. Ja, so haben sie sich zerstreut.
6 Meine Schafe verirrten sich in den Bergen und zwischen den hohen Hügeln. Über das ganze Land sind meine Schafe verstreut. Doch niemand fragt nach ihnen und niemand sucht sie.
9 Darum, ihr Hirten, hört das Wort des Herrn:
10 So spricht Gott, der Herr! Ich gehe gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe von ihnen zurück. Ich sorge dafür, dass sie nie wieder Schafe weiden. Auch sich selbst werden die Hirten nicht mehr weiden. Ich befreie meine Schafe aus ihrem Rachen. Sie werden ihnen nicht mehr als Nahrung dienen.
11 Ja, so spricht Gott, der Herr: Seht her, ich werde meine Schafe suchen und mich selbst um sie kümmern.
12 Ich mache es genauso wie ein guter Hirte, wenn seine Schafe sich eines Tages zerstreuen. Ja, so werde ich mich um meine Schafe kümmern. Ich rette sie von allen Orten, an die sie zerstreut waren –an dem Tag, der voll finsterer Wolken sein wird.
13 Ich führe sie weg von den Völkern und sammle sie aus den Ländern. Ich bringe sie zurück in ihr eigenes Land. Ich werde sie auf den Bergen und Tälern Israels weiden, an allen Weideplätzen des Landes.
14 Ihr Weideland wird auf den hohen Bergen Israels liegen. Ja, ich lasse sie dort auf gutem Weideland lagern. Auf den Bergen Israels finden sie eine grüne Weide.
15 Ich weide meine Schafe und ich lasse sie lagern.– So lautet der Ausspruch von Gott, dem Herrn.
Liebe Gemeinde,
Gott richtet sich durch den Propheten gegen die, die ihr Hirtenamt vernachlässigen oder missbrauchen. Wer ist gemeint, gegen wen richtet sich das?
Ich will Ihnen heute zunächst drei Predigtversuche vortragen.
Predigt-Versuch 1: Gegen die Herrscher
Hirten, die sich selbst weiden, anstatt die Herde, finden wir heute auch.
Wir können sie problemlos finden unter den Regierenden dieser Welt.
Wir spüren recht genau, wem es zuallererst um die eigene Macht geht
und wem vor allem um die Menschen, für die er oder sie verantwortlich ist.
Überraschend ist, dass auch die, denen es vor allem um die eigene Macht geht, Anhänger finden und gewählt werden.
Vermutlich, weil sie so sind wie wir oder gerade nicht.
Weil sie sich durchsetzen können, weil sie klare Kante zeigen und Klartext reden.
Viele lieben es, wenn die Dinge einfach sind.
Und so werden die „Haudraufs“ gewählt, obwohl man schon wissen kann, dass sie vorrangig das tun werden, was ihnen selbst Macht, Einfluss und Ansehen bringt.
Wehe den Hirten, die sich selbst weiden, sagt Ezechiel.
Ich möchte hinzufügen: Wehe den Schafen, die ihre Schlächter zu Hirten machen.
So könnte man über diesen Text predigen.
Predigtversuch 2: Gegen die Geistlichen
Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus, weil sie nicht damit einverstanden sind, wie die katholische Kirche mit dem vielfachen sexuellen Missbrauch durch Kirchenleute umgeht.
Zu lange hatte man den Eindruck, dass es mehr um den Schutz der eigenen Institution geht als um den Schutz der Opfer.
Auch evangelische Christen treten deshalb aus ihrer Kirche aus, auch wenn das nicht logisch ist.
Es i s t schlimm, wenn Seelsorger das Vertrauen missbrauchen, dass ihnen entgegen gebracht wird.
Ich lese gerade einen Roman über Elisabeth von Thüringen.
Das ist die mit dem Rosenwunder.
Sie wurde von ihm Beichtvater immer mehr in Selbstkasteiung und Selbstaufopferung getrieben. Es ging um die Macht über Menschen.
Elisabeth zerbrach darunter. Das war im Mittelalter.
Aber die Versuchung, geistlichen Einfluss zu missbrauchen, ist auch nach der Aufklärung nicht aus der Welt.
So könnte man auch über diesen Text predigen.
Predigtversuch 3: Gegen mich selbst
Den Kirchen wurde zu Beginn der Pandemie vorgeworfen, die Hirten hätten ihre Herde im Stich gelassen.
Ich fand diesen Vorwurf nicht richtig. Und trotzdem bleibt eine Frage.
Natürlich ist es nicht gelungen in den letzten Monaten, zu allen, die sonst im die Kirche kamen, Kontakt zu halten. Natürlich haben wir Hausbesuche nur in Notfällen gemacht.
Schafe, die sich verlaufen haben, habt ihr nicht gesucht, sagt der Prophet.
Findet die Herde hinterher wieder zusammen oder hat sie sich teilweise verlaufen?
Haben unsere vielfältigen Bemühungen ausgereicht, Menschen geistlich zu stärken in dieser schweren Zeit?
Blieben Menschen allein, weil wir sie nicht gesehen haben?
Auch so könnte man über diesen Text predigen.
Alle drei Versuche haben ihre Berechtigung.
Der Abschnitt aus Ezechiel hat allerdings noch eine ganz andere Wirkung,
wenn man bedenkt, in welcher Zeit der Prophet spricht.
Ezechiel
Ezechiel ist ein Prophet des Exils.
Ein erster Teil des Volkes Israel, vor allem die führende Schicht, war nach der Eroberung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar im Jahr 598 in die Verbannung nach Babylon geschleppt worden.
Ezechiel war unter ihnen. Dort im Exil beginnt er seine Tätigkeit als Prophet.
Die Führer Israels sind also in dem Moment längst umgekommen oder entmachtet. Es geht nicht mehr darum, ihnen ins Gewissen zu reden und eine Änderung ihres Handelns zu bewirken.
Es geht nun vielmehr darum, Erklärungen zu finden, warum die Katastrophe über das kleine Land hereinbrach.
Vor dem Hintergrund bekommen die Worte einen anderen Sinn.
5 Sie haben sich zerstreut, weil kein Hirte da war, und wurden zum Fraß für alle Raubtiere. Ja, so haben sie sich zerstreut.
6 Meine Schafe verirrten sich in den Bergen und zwischen den hohen Hügeln. Über das ganze Land sind meine Schafe verstreut. Doch niemand fragt nach ihnen und niemand sucht sie.
Ja, so fühlten sich die Menschen.
Entwurzelt, verstreut und niemand kümmert es.
Nun geht es darum, den verunsicherten Flüchtlingen am Rande der fremden Großstadt irgendeine Perspektive zu geben.
Das Vertrauen in irgendwelche Herrscher ist dahin.
Es gibt nur eine Hoffnung:
11 Ja, so spricht Gott, der Herr: Seht her, ich werde meine Schafe suchen und mich selbst um sie kümmern.
Diese Botschaft macht klar, was Israel eigentlich längst wusste:
Der Herr ist mein Hirte und sonst keiner.
Nie hatten sich die Könige Israels als Hirten bezeichnen lassen oder waren so angeredet worden.
Obgleich diese Anrede in den umliegenden Ländern in der Zeit weit verbreitet war.
Auch in Babylon, wo man jetzt lebt. Aber nicht in Israel.
So wird dieses schlichte Psalmwort Der Herr ist mein Hirte zu einer politischen Proklamation.
Gesellschaftskritik von Gott her ist das.
Schon beim ersten Mal, als die Israeliten unbedingt einen König wollten wie ihre Nachbarvölker, mahnt der Gottesmann Samuel, sie sollten sich später nicht beklagen, wenn sie er bereuten.
Es sitzt eine tiefe Skepsis in Volk Israel gegen alle Menschen, die Führung beanspruchen und Ansehen suchen.
Die Sehnsucht nach dem starken Mann: ist sie nicht immer ein Ausdruck des Misstrauens gegen Gott?
Nur einer ist Hirte
Wir finden diese Skepsis im Neuen Testament wieder.
Jesus mahnt seine Jünger, sich nicht Titel anzumaßen, die allein Gott zustehen.
Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder.
9 Und ihr sollt niemanden unter euch Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist.
10 Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus.
11 Der Größte unter euch soll euer Diener sein.
12 Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht.
Als ich noch ganz jung Pfarrer in Neugnadenfeld wurde, fand ich nicht unangenehm, dass die Leute in der Umgebung mich mit „Herr Pastor“ anredeten. Wenn ich mich sich so am Telefon meldete, war man sofort wer.
Nicht schlecht für so einen Jungspund, wie ich war.
Geistliche Titel sind eine Versuchung.
Nicht zufällig verzichtet die Brüdergemeine auf die Anrede „Pfarrer“ und ähnliches. Die Mitarbeiter*innen im geistlichen Dienst sind Gemeinhelfer oder Gemeindiener.
Die Anrede Schwester oder Bruder gilt für alle Geschwister. Wir sind einander Helfer und Diener und nicht mehr. Alles Jagen nach Titeln und Ansehen sollten wir uns immer wieder selbst verbieten.
Hirte ist nur Einer. Vor ihm sind wir gerne Schaf und Herde. Vor anderen Menschen aber sollten wir uns niemals zum Schaf degradieren, indem wir erwarten, dass sie unsere Hirten sind.
Natürlich gibt es Verantwortlichkeiten, die jemand übertragen bekommt.
Es gibt Leitungsämter, die dann auch wahrgenommen werden wollen.
Das sind aber immer in demokratischen Prozessen legitimierte zeitlich begrenzte Aufgaben.
Solche ungleichen Verhältnisse unter Menschen brauchen auf der einen Seite ein Stück Vertrauen, auf der anderen Seite aber auch eine gewisse Skepsis, sowohl bei denen, die eine Führungsaufgabe wahrnehmen als auch bei denen, die Verantwortung abgeben.
Denn nur Einer ist unser Hirte.
Dem leiht der Prophet Ezechiel seine Stimme, wenn er spricht:
Ich rette sie von allen Orten, an die sie zerstreut waren –an dem Tag, der voll finsterer Wolken sein wird.
13 Ich führe sie weg von den Völkern und sammle sie aus den Ländern. Ich bringe sie zurück in ihr eigenes Land. Ich werde sie auf den Bergen und Tälern Israels weiden, an allen Weideplätzen des Landes.
14 Ihr Weideland wird auf den hohen Bergen Israels liegen. Ja, ich lasse sie dort auf gutem Weideland lagern. Auf den Bergen Israels finden sie eine grüne Weide.
15 Ich weide meine Schafe und ich lasse sie lagern.– So lautet der Ausspruch von Gott, dem Herrn.
A m e n
Christoph Huss