Wirklich frei
25.09.2022
Gal. 5,25-6,10
25.09.2022
Gal. 5,25-6,10
Liebe Gemeinde, liebe Schwester und Brüder,
„Einer trage des andern Last“. „Im Geist leben“. „Im Geist wandeln“. „Gutes tun und nicht müde werden“. Der Predigttext heute beinhaltet viele Sprüche, die wir nur zu gut kennen. Wie so oft, wir kennen den Text so gut, dass es kaum etwas Neues zu sagen gibt. Dennoch …
Im Winter 2016/17 lebte ich für drei Monate in Tansania. Ich habe dort an der TEKU in Mbeya, als Gastdozent unterrichtet. Ich war sofort von der swahilische Sprache angetan. Ich wollte die Sprache so sehr lernen. Ich fand sie schön. Vom Klang her. Doch ich muss zugeben, meine Versuche Swahili zu lernen sind gescheitert. Ich habe also die Sprache nicht gelernt, aber sie hat mir einiges gelehrt, wie ich nun mit einem Beispiel erzählen werde. Es gab jeden Tag an der Universität eine Andacht. Die Theologiestudierenden und -Professoren hielten sie ab. Als Hilfe bei den zahlreichen Andachten und Gottesdiensten, habe ich eine App auf mein iPhone installiert. Eine Parallelbibel auf Englisch und Swahili. Bei der Bibellesung im Gottesdienst auf Swahili hoffte ich anhand der doppelten Übersetzung ein Bisschen Swahili lernen zu können.
Eines Tages ging es um denselben Text, den wir heute als Predigttext haben. Ich kannte den Text schon, und ein scheinbarer Widerspruch hatte mich immer irritiert. Im Vers 2 steht die bekannte Ermahnung, „Einer trage des andern Last“. Aber kurz danach schreibt Paulus, „ein jeder wird seine eigene Last tragen“. Was soll das? Sollten wir des andern Last tragen oder nicht? Mir fiel bei der Swahili-Übersetzung des Texts auf, dass es in dem Text zwei unterschiedliche Wörter für „Last“ gab. Verstehen konnte ich die Wörter nicht, nur erkennen, dass sie unterschiedlich waren. Nach dem Gottesdienst schlug ich in die griechische Bibel nach, und siehe da, dort waren auch zwei verschiedene Wörter für „Last“. Im ersten Satz heißt „Last“ etwas wie ein physikalisches Gewicht. Etwas wie ein Koffer. Wir haben alle jemanden beim Koffertragen geholfen. Es ist nichts Ungewöhnliches. In dem zweiten Vers, wo es steht, dass jeder seine eigene Last tragen muss, ist das griechische (und swahilische) Wort für Last etwas Persönliches. Es geht hier um eine persönliche Last, die nur ich alleine tragen kann. Sie ist nicht übertragbar. Sie ist wie das Baby im Bauch einer schwangeren Frau. Nur die Mutter kann es tragen. Niemand kann ihr dabei helfen.
Also, es gibt Lasten, wo wir tragen helfen können und sollten, und es gibt Lasten, die wir alleine tragen müssen. Das sollten wir erstmal festhalten.
Was sind die Lasten, die wir beim tragen helfen sollten? Was sind die Lasten von anderen, die wir auf uns nehmen sollten? In diesem Punkt ist der Text vielschichtig. Es gibt drei Arten von Lasten:
Sie können wortwörtliche Lasten sein, wie der schwere Koffer, aber sie können auch Dinge sein wie eine schwere Aufgabe oder eine schwierige Situation. Eine Nachbarin ist krank. Ich koche und liefere bei ihr eine Mahlzeit für sie und ihre Familie ab. Wie beim Koffertragen helfen, das ist nichts Besonderes. Das tun wir einfach. Was bei Pauls wichtig ist, ist unsere Haltung dabei. Weil ich im Geist lebe, ich wandele auch im Geist und jammere nicht, dass ich der Nachbarin geholfen habe. Und ich protze nicht, dass ich so toll bin, dass ich es tue. Das ist wandeln im Geist.
Aber es gibt eine dritte Art von Lasten, die wir tragen sollten, die eine Schicht tiefer liegen. Das sind die Verfehlungen unserer Mitmenschen. Wir sollten deren Verfehlungen tragen. Wir sollten sie ertragen. Wir sollten dies tun ohne den betroffenen zu verurteilen und ohne uns auf die Schulter zu klopfen, dass wir solche Verfehlungen nicht hätten. Man denkt hier an das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner. „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner.“ Die Selbstgerechtigkeit des Pharisäers ist atemberaubend. Sein Verhalten ist das Gegenteil vom Wandel im Geist. Und er sollte es eigentlich besser wissen. In beiden Blickrichtungen verhält er sich falsch. Im Blick auf den Zöllner, verurteilt er dieser. Im Blick auf sich selbst, lobt er sich. Ein perfektes negatives Beispiel vom Wandeln im Geist.
Selbsterkenntnis. Das ist was dem Pharisäer gefehlt hat. Gewiss hat er nicht „gesündigt“ wie der Zollner im Gleichnis. Aber er lebte nicht im Geist. Er wandelte nicht im Geist. Sondern er versuchte zu leben und wandeln nach seinen eigenen Kräften. Und es gelang ihm nicht.
Ein roter Faden, der Kapitel 5 und 6 durchzieht, ist das Vergleichen. Die Freiheit in Christus im Gegensatz zu der Knechtschaft ohne Christus. Die Frucht des Geistes im Gegensatz zu der Frucht des Fleisches und das Leben im Geist im Gegensatz zu dem Leben im Fleisch.
Wir Menschen vergleichen ständig. Es ist kälter heute als gestern. Es sind mehr (oder weniger) Menschen in der Kirche heute als am letzten Sonntag. Die Kollekte war mehr oder weniger als am letzten Sonntag. Ja, wir vergleichen ständig. Und wir bewerten und beurteilen. Frau Müller ist eine bessere Lehrerin als Herr Schneider. Eine Schülerin ist intelligenter als eine andere. Die Predigt heute ist viel schlechter als . . . Wir vergleichen. Und wir fällen Urteile. Der Pharisäer verglich sich mit dem Zöllner und protzte. Ich bin nicht wie er. Er sah jemand, der in seinen Augen schlechter war als er, und er sah seinen eigenen Makel nicht. Er sieht den Balken in seinem eigenen Auge nicht.
Der Pharisäer meinte besser zu sein als der Andere und war selbstgerecht. Aber manchmal meinen wir es schlechter zu haben als der Andere und werden neidisch. Z. B., Herr Schmidt hat ein neueres Auto als ich. (Ich bin neidisch.) Kennen Sie noch die alte Sparkasse Werbung? „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“? Der eine möchte den anderen neidisch machen, aber der andere überbietet ihn. Beide Männern leben und wandeln im Geist . . . des Geldes.
Hier möchte ich ein Wort über die Sozialmedien sagen. Die auch ich selber eifrig benutze. Vor allem Facebook. Brüder und Schwester, Facebook ist ein Neid-Erzeuger. Schau mal meine schönen Urlaubsbilder an, während Du im Büro sitzt. Sind meine Kinder nicht süß? Die Hochzeit meiner Tochter war einfach perfekt! Die Bilder sind der Beweis. Selbst unser tägliches Brot wird zum Grund zu protzen. Schaut mal was ich heute gegessen habe. Es war so lecker. Bei Facebook postet man Höhepunkte. Nicht Tiefpunkte. Es ist alles nicht böse gemeint. Unsere Freunde wollen uns ihre Freude mitteilen, damit wir uns mitfreuen. Das ist mindestens die Theorie. Aber tun wir es immer? Wenn wir unseren langweiligen Alltag mit den schönen Dingen und Erlebnissen vergleichen, die wir bei unseren Facebook-Freunden sehen, freuen wir uns?
Eins der genialsten Werke Martin Luthers heißt „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Die Kernaussage dieses Werks wirft Licht auf unseren Text heute. Luther schreibt, „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“. Zugleich ist ein Christenmensch „ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Dieser scheinbare Widerspruch ist nicht wirklich schwer zu verstehen. Wir waren mal Sklaven unserer verdorbenen menschlichen Natur. Dann kam Jesus. Jesu Tod am Kreuz hat uns aus der Sklaverei des Fleisches – oder unserer menschlichen Natur – befreit. Nun sind wir von Gottes Geist regiert. Nun sind wir erst wirklich frei. Auch frei zu dienen. Frei selbstlos zu sein. Frei die Lasten unserer Mitmenschen mitzutragen. Ohne zu jammern oder verurteilen.
Paulus Aussage ist vielschichtig. Weil wir frei sind, wir können unsere Mitmenschen aushelfen, wenn sie überfordert sind. Wir können für einen kranken Nachbar das Rasen mähen oder eine Mahlzeit liefern. Weil wir frei sind, können wir aber einen Schritt weiter gehen. Wir können auch die Verfehlungen unserer Mitmenschen mittragen, ohne überheblich oder selbstgerecht zu werden.
Und das ist wo das Wandeln im Geist wirklich bemerkenswert wird. Wir helfen unseren Mitmenschen zurecht mit sanftmütigem Geist. Wir tun es ohne sie abzuurteilen und ohne uns selbstgerecht zu fühlen. Wie Jesus unsere Sünden auf sich getragen hat, so sollten wir die Verfehlungen unserer Brüder und Schwester tragen und erdulden.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und helfe uns, in Jesu Namen einander die Lasten zu tragen.
Amen.
Gerald MacDonald