Ein Sonntag zum Aufatmen.
22. März 2020 (Laetare), Jesaja 66, 10-14
22. März 2020 (Laetare), Jesaja 66, 10-14
Liebe Gemeinde zuhause an den Bildschirmen!
Vielleicht haben Sie sich schon die ganze Zeit gewundert über die Tücher hier vorne,
eines violett, eines weiß.
Sie werden es nicht glauben: Diese Farben entsprechen einer alten liturgischen Vorschrift: Die Farbe für den heutigen Sonntag Laetare ist rosa. Ich habe mich, als ich es las, genauso gewundert wie Sie vielleicht.
Dieser Sonntag ist der mittlere in der Passionszeit, Halbzeit sozusagen; da wirft die Gemeinde schon einmal einen Blick Richtung Ostern. In das Violett der Fastenzeit mischt sich das Weiß der österlichen Freude. Die Gemeinde erinnert sich, dass der Leidensweg Jesu nicht im Tod endete, sondern zu einem neuen Anfang in der Auferstehung wurde.
Ein Sonntag zum einmal Aufatmen.
Momente zum Aufatmen brauchen wir dringend in dieser Zeit, wo wir noch nicht wissen,
wie lange die Virus-Krise unser ganzes gesellschaftliches Leben lähmen wird.
Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Bibeltext ist ein Aufatmen-Text.
Er steht in Jesaja 66, 10-14.
Ihm verdankt der heutigen Sonntag Lätare (Freut euch) aus seinen Namen:
10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt!
Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.
11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes;
denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.
12 Denn so spricht der HERR:
Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach.
Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.
13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.
14 Ihr werdet’s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras.
Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.
1. Mütterlich getröstet
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Ach, ja. Gezwungenermaßen zu Hause sitzen kann ganz schön trostlos sein. Viel Zeit, sich Sorgen zu machen.
Wer alleine wohnt, hat es besonders schwer. Da ist es schon gut, wenn mal jemand anruft oder jemand etwas vorbeibringt, was man sich selbst nicht besorgen konnte.
Manche nutzen die Zeit kreativ. Fangen wieder an zu malen oder zu musizieren. Wenn man zu mehreren ist, kann man die längst vergessenen Gesellschaftsspiele wieder mal rausholen. Auch Firmen werden kreativ, besorgen Dinge ins Haus.
Aber natürlich sind das nur Notlösungen. Wie wird es weitergehen mit dem kleinen Betrieb, der Gaststätte? Viele machen sich zu Recht Sorgen.
Trost ist schon gut, einmal aufatmen können. Im Hebräischen steht hinter dem Wort für trösten das Bild, dass einer heftig atmet, tief seufzt, aufatmet. Trösten ist jemand aufatmen lassen. Gott stellt sich den Menschen in diesen Worten aus dem Mund des Propheten mütterlich vor. Das ist ungewohnt, wo er uns doch sonst eher als väterlich begegnet.
In was für vollen, genießerischen Bildern das ausgeschmückt wird.
11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes;
denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.
Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.
Vielleicht ist es einfach jetzt einmal der Moment, dieser Bild vom mütterlichen Gott aufzunehmen, sich hineinzusetzen in diesen Schoß der Geborgenheit.
Gott ist für mich da. Seine Fürsorge umgibt mich.
Tobe, Welt und springe; ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh. Gottes Macht hält mich in acht, Erd und Abgrund muss verstummen, ob sie noch so brummen, dichtet Johann Franck kurz nach dem dreißigjährigen Krieg (EG 396, 3).
Es geht nicht um Sorglosigkeit oder ums Augen verschließen vor den Herausforderungen. Aber wir brauchen in dieser Zeit die Momente des Atemholens, in denen wir uns tiefen Zug Liebe gönnen. „Gott ist wie ein Backofen voller Liebe“, sagt Luther. Danke, Gott, dass du da bist, mich mit Deiner Liebe umgibst.
Es gibt bedingungslose Liebe
Die alles trägt und nie vergeht,
Und unerschütterliche Hoffnung,
Die jeden Test der Zeit besteht.
… Es gibt ein ewges Reich des Friedens.
In unsrer Mitte lebt es schon:
Ein Stück vom Himmel hier auf Erden
In Jesus Christus, Gottes Sohn. (Albert Frey)
Lassen wir uns trösten und spenden wir Trost.
2. Für’s Ganze denken
Bisher habe ich nur über den einen Vers gesprochen. Ich will jetzt noch einmal auf das Ganze schauen.
In dem Bibeltext ist es Jerusalem, das getröstet wird.
10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt!
Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.
Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach.
Die Israeliten hatten Krieg erlebt, Verbannung und waren nun wieder in Jerusalem. Aber alles war sehr bescheiden, karg. Wirtschaftlich hatten die Nachbarn besser überlebt.
Die Christen sind mit dem Volk Israel unaufgebbar verbunden. Nichts wünschten wir mehr als Frieden in dieser unruhigen Region, für Jerusalem, für Israel und alle seine Nachbarn. Gewalt gegen Juden und jede andere Form von Rassismus muss unseren Widerstand hervorrufen.
Anders als damals der Prophet können wir Frieden und Fülle aber nicht als Privileg für Einen sehen. Die Vision einer Fülle für den Einen auf Kosten der Anderen ist nicht mehr die unsere. Trost für einen, Zorn für den anderen, wie es Jesaja formuliert: da hat Jesus uns eines Besseren belehrt: Teilt mit allen, vergebt, liebt eure Feinde. Schaut nicht auf Euers, sondern schaut aufs Ganze.
Da werden wir momentan immer wieder herausgefordert. Das fängt beim Klopapier an und endet bei der Idee, man könnte den rettenden Impfstoff für die eigene Nation allein aufkaufen. Wir sind im Moment so angespannt, dass wir schnell mal einen Schuldigen ausgemacht haben.
Natürlich ist es ärgerlich, wenn die einen noch feiern, während die anderen schon erkannt haben, was die Zeichen der Zeit sind. Aber lassen wir den Ärger nicht zum Hass werden. Es ist eine echte Herausforderung, fürs Ganze zu denken, wenn die Lage so angespannt ist.
3. Gottes „geburtlicher“ Weg
Zurück zu unserem rosa Tuch und den mütterlichen Bildern. Viel öfter, als wir vermuten, zeigt uns die Bibel ein mütterliches Bild von Gott.
Da ist das Bild von der Henne, die ihre Jungen unter dem Schatten ihrer Flügel sammelt (Ps 17,8)
Da ist der Säugling bei seiner Mutter: wie ein kleines Kind bei seiner Mutter, wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir. Ps 131,2
Da ist die Gottheit, der kleidet, der erzieht, tröstet.
Oder Leben schenkt, wenn Gott spricht: Den Fels, der dich gezeugt hat, hast du außer Acht gelassen und hast vergessen den Gott, der dich geboren hat. (Dtn 32,18)
Wenn wir einmal aufmerksam hinschauen, dann merken wir, wie sehr es die Bibel mit Geburten hat. Immer wieder ist in der Bibel von Kindern die Rede, die unverhofft, doch noch, wider Erwarten geboren werden, der Isaak der Sara, der Samuel der Hanna, der Johannes der Elisabeth und dem Zacharias. Und immer liegt in diesen Geburten ein Neuanfang, eine Hoffnung für die Zukunft. Und natürlich: das bekannteste Fest der Christen rankt sich um eine Geburt, die Geburt von Jesus.
Die Schweizer Theologin Ina Prätorius, hat eine Geburtstheologie entwickelt. Sie hat vorgeschlagen, sich in einem „geburtlichen“ Denken zu üben und im Licht des Weihnachtsgeheimnisses zu einem „geburtlichen“ Lebensstil zu finden. (1)
Zwei Aspekte spielen für Ina Prätorius bei einem „geburtlichen“ Denken eine Rolle: Jedes Kind ist ein ganz neuer Mensch, ein Individuum. Und es ist zugleich ganz eingebunden in das Leben vor ihm und um ihn, ist angewiesen, abhängig, dass andere ihm ins Leben helfen. Ina Prätorius schlägt vor, jeden Tag in dem Bewusstsein zu beginnen, dass es ein ganz neuer Tag ist, voller Möglichkeiten, etwas neues zu beginnen und zugleich sich hineinzustellen in das große Beziehungsgewebe, ohne dass wir nicht leben könnten und diese Angewiesenheit anzunehmen.
Auf der einen Seite
das könnte ein „geburtliches“ Denken ausmachen.
Gott geht selbst den „geburtlichen“ Weg. Er setzt sich selbst der Welt aus und ihren Verflechtungen. Gott macht sich verletzlich wie ein Kind, kommt nicht als ein unverwundbarer Riese, der Messias, der Gesalbte Gottes, wird geboren.
So wie wir alle geboren wurden. Wie einfach und wie außerordentlich! Gott geht den „geburtlichen“ Weg.
Ist nicht selbst der Tod Jesu am Kreuz eine Geburt? Aus diesem scheinbaren Ende weckt Gott neues Leben, unter Schmerzen, blutig (2), als gäbe es keinen anderen Weg zu dem anderen Leben, das wir uns so wenig vorstellen können wie ein Embryo ein Leben außerhalb des Mutterleibes.
Schluss
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Sagt Gott.
Setzen wir uns hinein in Gottes tröstende Gegenwart. Und trösten wir andere, helfen wir, dass sie einen Moment aufatmen können. Als dieser Bibelvers 2016 Jahreslosung war, haben wir in einen Kreis drüber gesprochen, wie man trösten kann.
Ich habe die Zettel aufgehoben und gestern wiedergefunden:
Zuhören.
Mit dem anderen traurig sein.
Umarmen das geht jetzt nicht
Liebevoll sein
Nicht allein lassen
Da sein.
Analysieren.
Erklären.
Psalmen lesen.
Geschenk.
Helfen.
Musik.
Einen trinken gehen momentan eingeschränkt
Ablenken.
Es braucht den anderen.
Gott.
Hat mit uns gelitten.
Abwischen alle Tränen.
ER gibt uns, was wir brauchen.
Schalom.
So kann sich in die Farbe der Passion, des Leidens, die Farbe des neuen Lebens von Ostern mischen, wie bei den Tüchern hier vorne.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre uns Herzen und Sinnen in Christus Jesus.
Amen
Chr. Huss, Königsfeld
(1) Ina Praetorius, Immer wieder Anfang, Texte zum geburtlichen Denken, Ostfildern 2011. Statt geburtlich kann man auch „nativ“ sagen.
(2) Hier deuten sich andere Bildwelten in Verbindung mit dem Blut an, das mancher/m neue Zugänge zu Abendmahl und Kreuz öffnen könnte.