Du bist ein Gott, der mich sieht.
Predigt 01.01.2023 Neujahr
Kurt Rittinghaus
1. Mose 16,13, Jahreslosung 2023
Predigt 01.01.2023 Neujahr
Kurt Rittinghaus
1. Mose 16,13, Jahreslosung 2023
Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi
Und die Liebe Gottes
Und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
Sei mit uns allen! Amen
Liebe Gemeinde,
ein neues Jahr hat begonnen. Neue Erwartungen, neue Hoffnungen oder neue Befürchtungen? Es wäre so dringend nötig, dass sich einiges, nein vieles, ändert. Gibt uns die Jahreslosung dazu die Richtung vor? So direkt ja anscheinend nicht: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Inzwischen haben wir Angst bekommen, dass Gott die notwendigen Änderungen womöglich nicht sieht. Aber gehen wir dabei nicht auf dem so ausgetretenen Irrweg, das wir erwarten, dass Gott die Welt mit unseren Augen sieht, aber eben nicht versuchen, die Welt mit Gottes Augen zu sehen. Sehen und gesehen werden. Könnte man damit etwas salopp vielleicht die Losung zusammenfassen? Im ersten Moment sagen wir „Auf keinen Fall“. Lassen Sie uns prüfen, ob das geht oder verkehrt ist.
Wir kommen ja von Weihnachten her. Und da haben wir gelernt, wie manches wunderschöne Weihnachtslied eine Notlage, wie sie im Viehstall vorlag, in goldenes Licht tauchte und sie uns so doch recht annehmbar machte. Unsere Jahreslosung hat einen ganz anderen Hintergrund, aber leider keinen so viel Positiveren. Der Hintergrund ist vielmehr für Abraham und Sara, man könnte sie die Erzeltern nennen, wie auch für Hagar, die „Leihmutter“ eine mittlere Katastrophe. Wir müssen dazu von der Geburt Jesu noch einmal wohl mehr als 1.400 Jahre zurückgehen. Abraham hatte von Gott die Verheißung, Vater eines großen Volkes zu werden. Aber selbst im fortgeschrittenen Alter hatten sie noch keine Nachkommen. Sara schlug deshalb ihrem Mann vor, doch ihre Magd Hagar zur „Nebenfrau“ zu nehmen, um auf diesem Wege doch zu Kindern zu kommen.
Für uns klingt das befremdlich, war aber in damaligem Verständnis durchaus denkbar ohne anstößig oder falsch zu sein. Auch heutzutage gibt es z. B. bei den Massai in Ostafrika die Möglichkeit, dass eine Frau einer anderen, die keine Kinder bekommen hat, ihr eigenes Kind schenkt, um sie vor der Kinderlosigkeit zu bewahren. Kein Mensch fragt dabei nach dem Vater.
Abraham folgt dem Vorschlag seiner Frau und Hagar wird von ihm schwanger. Wie das Unglück es wollte, verhielt sich Hagar nun hochmütig gegenüber ihrer Herrin Sara. Diese beklagt sich darüber bei Abraham und der stellt ihr frei, ihre Magd nach ihrem Gutdünken zu bestrafen. Das bekommt Hagar mit und flieht in die Wüste. Dort findet sie der Engel des Herrn, Engel heißt zu Deutsch: Bote, der sie wieder zurück zu Sara sendet, um dort ihren Sohn zu gebären: Ismael, d. h. Gott hat erhört. Und er gibt ihr die Zusage einer großen Nachkommenschaft. Und in 1. Mose 16, 13 heißt es weiter „Und sie nannte den Namen des Herrn, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn gewiss habe ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“ Die Basisbibel formuliert es etwas anders: „Hagar gab dem Herrn, der mit ihr geredet hatte, den Namen El-Roi, das heißt: Gott sieht nach mir.“
Das also ist der Hintergrund, aus dem unsere neue Jahreslosung entnommen ist. Wahrhaft dramatische Umstände. Die erste Jahreslosung, die das Wort einer Frau zitiert. Die erste Frau, die in der Bibel mit der Verheißung einer großen Nachkommenschaft, wie eben bei Abraham, bedacht wird. Und sie, eine Frau ursprünglich aus Ägypten, wird die Stammmutter der Araber.
Mitunter ist von den abrahamitischen Religionen die Rede. Ein Hinweis darauf, dass Juden, Christen und Muslime gemeinsame Ursprünge haben. Und Israel, wenn es damals wie heute in Konflikten seinen Nachbarn begegnet, es am Ende ja mit anderen Nachfahren Abrahams zu tun hat. Also doch wohl ein Aufruf, Respekt und Frieden walten zu lassen. Logischerweise spielt dann Hagar auch im Koran eine Rolle.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Das ist ihr Bekenntnis, ihre Erfahrung, ihre Aussage. Sie ist Gott begegnet auf ihrer Flucht in Angst um ihr Leben. Dieser, bislang vielleicht als fremd gesehener Gott, nimmt sich ihrer an. Auch sie ist ihm nicht gleichgültig. Er holt sie buchstäblich zurück. Dabei hatten ja alle drei, Abraham, Sara und Hagar in diesem Drama Schuld auf sich geladen. Gott, der auf sie sieht, bringt das in Ordnung. Er repariert Beziehungen.
Gott, der mich sieht. Ist das auch unsere Erfahrung? Erinnern wir uns nicht an manches Mal, wie etwas zurechtgebracht wurde, was verkorkst war? Hat er uns nicht oft genug den Weg wieder finden lassen, den wir längst verloren hatten? Ist nicht so Manches gut ausgegangen, das wir schon in die verkehrte Richtung gesteuert hatten. Und haben wir dann nicht im Nachhinein gemerkt, da ist einer am Werk, der auf uns sieht, der uns nicht allein lassen will, der uns helfen will und uns wohlgesonnen ist. An den wir uns wenden können, wenn wir in Problemen und Ausweglosigkeiten stecken.
Aus der Zeit Zinzendorfs stammt eine Zeile „dein Gnadenanblick macht uns so selig“ (Christian Gregor 1767, BG 355,1). Wenn auch recht altertümlich formuliert, ist es mir doch so wichtig, dass ich keine Nacht ohne diesen Vers einschlafen möchte. Hagar hat ihn erlebt als den, der sie in der Not nicht allein lässt, der sie vor Tod bewahrt.
Von dem Gott, der alles sieht, vor dem wir nichts verbergen können, ist hier nicht die Rede. Er ist weder Hilfserzieher noch Kontrollkamera. Auch wenn er Richter über allem ist, so will er uns doch nicht bedrohen, sondern helfen, aus den Schwierigkeiten, die wir selbst verursacht haben, wieder herauszukommen. Er ist unser Erlöser, so sieht er uns.
Wenn junge Leute im Internet unterwegs sind, und nicht nur sie, dann achten sie peinlich genau darauf, wie das ankommt, was sie sagen, wie viele Klicks und Likes es gibt. Wie werden wir gesehen? Wie viel Mühe und Sorge wenden wir auf, damit die anderen uns so sehen, wie wir es gerne hätten. Nicht nur Kinder kennen die Angst, dass die andern alle besser dastehen als sie selbst. Mode, Übertreibungen oder Lügen, das alles soll doch dazu dienen, dass wir für andere besser aussehen.
Wie befreiend ist es, zu erfahren, Freunde können mich annehmen, wie ich bin. Ich muss mich nicht verstellen. Gott nimmt mich an als unvollkommenen Menschen. Der El Roi, der Gott, der mich sieht, ist da und nimmt sich unser an.
Aber wie Gott auf alles Menschliche sieht, bleibt doch ein Geheimnis. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass Gebete auch nicht erhört werden, Probleme ungelöst bleiben und Krieg und Unrecht nicht endet. Unsere Friedensgebete finden seit zig Jahren statt, und sie sind noch nötig. Oder sogar nötiger als zuvor. Wir kann man damit zurechtkommen? Ganz zu schweigen davon, wie es für Betroffene ausgehalten werden kann. Auch wenn es ein Trost sein kann, dass nicht immer der Stärkere über den Schwächeren siegt. Wir hoffen doch von Herzensgrund auf eine gerechte, oder zumindest fairere Welt. Nein, wir verstehen nicht, warum Gott nicht eingreift. Seine Wege sind uns ein Stück weit doch verborgen. Es mag auch daran liegen, dass wir glauben, Gott müsste doch unseren Wünschen folgen und uns gleichzeitig weniger Mühe geben, Gottes Wege zu erkennen und anzunehmen.
Das alles ändert nichts daran, dass wir Gott im Jahr 2023 als den erfahren können, der uns sieht. Wir müssen kein lautes Geschrei machen, uns nicht gegen eine Mehrheit durchsetzen, nicht genügend Leute auf unsere Seite bringen. Er sieht uns und das reicht.
Gesehen werden und sehen. Wie sieht es dann mit unserer Sicht aus? Wenn wir von Gott gesehen werden wollen und ihn auch im Gebet noch daran erinnern, was ist dann damit, wie wir andere sehen? Wir wollen uns dann doch auch der Sicht Gottes anpassen darin, wie wir auf andere reagieren.
Vor Gott ist kein Ansehen der Person. Wie sehen wir auf Menschen, die wir nur zu leicht über oder unter uns einordnen? Hager ist eine Frau auf der Flucht. Sehen wir die Bedürfnisse Geflüchteter?
Sie hat als Ausländerin keine Lobby. Wie wird bei uns mit Menschen umgegangen, die Wege suchen, ihr Leben zu verbessern? Sie hat ihr Ansehen an ihrem Arbeitsplatz verloren. Helfen wir Menschen nach Fehlern wieder auf?
Sie sitzt allein in der Wüste. Wie können wir Menschen, die ihre Gemeinschaften verloren haben, zurückhelfen? Wie gehen wir mit uns selbst um, wenn uns etwas misslungen ist? Können wir uns vergeben und einen besseren Weg wagen?
Der uns enttäuscht hat, wird fortan gemieden oder können wir vergessen? Haben wir schon aufgegeben, andere so zu sehen, wie Gott sie wohl sieht? Sind wir noch auf dem Weg, zu lernen, auch unseren Nächsten mit den Augen Gottes zu sehen?
Dass Gott uns gesehen hat, hat unser Leben verändert, hat ihm neue Richtung und Befreiung gegeben. Und das gilt für die ganz grundsätzliche Ausrichtung, für unseren Glauben, für die Hoffnung, mit der wir in die Zukunft sehen. Und das gilt für die vielen Kleinigkeiten, in denen es sich bei uns abspielt. In allem und an jedem Tag will er unser Helfer sein.
Das ganze Jahr über soll uns diese Zuversicht begleiten, dass da Gott ist, der uns sieht, der nicht müde wird, sich unserer anzunehmen und uns zu begleiten. Uns so lange wir dies Wort erinnern können, soll es uns Kraft geben als Menschen zu leben, die nicht allein sind, weil da Gott ist, der uns sieht. El Roi.
Amen