Vertraut dem guten Hirten
23. Januar 2022,
Matthäus 8, 5-13
23. Januar 2022,
Matthäus 8, 5-13
Liebe Gemeinde,
Grenzüberschreitungen und Glaube: das sind die beiden Themen, die bei der Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum eine besondere Rolle spielen.
Der Hauptmann hatte die Befehlsgewalt über einhundert Soldaten der römischen Besatzungsarmee: Er war also ein Offizier der mittleren Ebene. Kontakte zwischen den Besatzungstruppen und der einheimischen Bevölkerung waren untersagt; sie sollten sich, falls unumgänglich, auf das Notwendigste beschränken. Die Grenze zwischen den Besetzern und der Bevölkerung Judäas und Galiläas wurde sorgsam gehütet.
Aber der Hauptmann setzt sich über diese Grenze hinweg. Er hat von Jesus und seinen Wundertaten gehört, und nutzt gegen jede Anordnung und gegen alle Regeln die Chance, den Wanderprediger aus Nazareth um Hilfe zu bitten. Denn sein Diener – oder war es sein eigener Sohn? – krümmt sich vor Schmerzen und ist todkrank. Was der Mann schon versucht hat, wissen wir nicht, aber er scheint mit seinen Möglichkeiten am Ende.
Auffallend: er, der sonst Befehle erteilt, wird zum Bittsteller, und er geht sogar so weit, Jesus als „Herrn“ anzusprechen: „Herr, mein Diener liegt gelähmt zuhause …“ Der Hauptmann tut etwas Verbotenes. Bei den Priestern des Tempels, die auch für Gesundheit zuständig waren, hätte er keine Chance gehabt. Denn denen war nicht gestattet, einem „unreinen“ Heiden zu helfen. Der Hauptmann riskiert alles und überschreitet Grenzen!
Auch Jesus überschreitet Grenzen. Als Jude fragt er nicht nach der Herkunft des Mannes, er fragt nicht nach seiner Religionszugehörigkeit, es spielt für ihn keine Rolle, ob der Mann Offizier ist und nach jüdischen Gesetzen als unrein gilt: er hört von der Not im Hause des Hauptmanns und hilft. Eigentlich wollte er an das Krankenbett des Patienten kommen, aber der Bittsteller zeigt so viel Ehrfurcht vor dem Mann aus Nazareth, dass er sich schämte, wenn Jesus sein Haus betreten würde.
Jesus akzeptiert das und heilt den Diener aus der Ferne. Mit der Heilung überschreitet er Grenzen, denn Juden sollten unter sich bleiben und nur für sich sorgen; Hilfe und Heil war dem Volk Gottes vorbehalten. Jesus weiß sich allerdings bei dieser Grenzüberschreitung in guter Gesellschaft, denn schon der Prophet Jesaja hatte verkündigt, dass einmal alle Völker zum Berg des Herrn strömen werden, dort ihre Weisungen entgegennehmen und Frieden feiern werden – nicht nur die Juden als das Volk Gottes. Jesus weist auf dieses Prophetenwort hin und setzt es um. Grenzen fallen!
Dazu fällt mir das Buch „Ungläubiges Staunen über das Christentum“ von Navid Kermani ein. Der Autor zeigt: auch ein Muslim kann über Gott, wie wir ihn durch Jesus kennen, staunen, und damit eine Tür zum christlichen Glauben auftun. Grenzen werden überschritten! Jesus macht jedenfalls Ernst: kein Heimvorteil für Juden. Bezogen auf uns heißt das doch: wir Christen haben vor Gott keinen Heimvorteil gegenüber Andersgläubigen oder gegenüber solchen, die sich vom Glauben abgewendet haben. Gottes Liebe kennt keine Grenzen! Nächstenliebe kennt sie auch nicht!
Das zweite wichtige Thema dieses Textes: der Glaube dieses „heidnischen“ Hauptmanns. Jesus staunt: einen solchen, einen so großen Glauben hat er in ganz Israel – da sollte ja der Glaube zuhause sein! – nicht gefunden. Was ist denn so besonders, so einzigartig am Gauben dieses Mannes? Martin Luther nennt ihn sogar einen „theologus“, einen Theologen, einen, der von Gott reden kann und etwas von ihm begriffen hat.
Der Hauptmann ist in keiner frommen Familie aufgewachsen. Er war nicht getauft, er hatte weder Konfirmanden- noch Religionsunterricht gehabt, und er kannte von der Bergpredigt wohl kein einziges Wort. Aber er deckt mit seinem Verhalten den Kern, das Zentrum, die Quelle des Glaubens auf: er vertraut! Damit wird dieser sonst unbekannte Mann zu einem Zeugen des Glaubens! Wir können von ihm lernen! Der Glaube besteht in erster Linie nicht aus Formeln, die wir auswendig zu lernen haben. Das beste Glaubensbekenntnis nützt nichts, wenn wir beim Glauben nicht damit anfangen, Gott zu vertrauen, auf ihn zu hoffen und unsere ganz Zuversicht auf ihn zu setzen.
„Ach, wenn ich doch nur glauben könnte“, sagte jemand enttäuscht. So spricht jemand, der meint, der Glaube bestehe in erster Linie aus Wissen – ein Wissen, das ich womöglich modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen entgegenzusetzen habe.
Der Hauptmann ist zu beneiden! Denn er hat verstanden: es geht beim Glauben um das Vertrauen zu Gott. Da werde ich bescheiden, da nehme ich mein eigenes Recht zurück, ja, ich riskiere sogar, dass ich nicht weiß, wie etwas ausgeht. Aber ich bin nicht blind, sondern ich weiß mich gehalten und getragen und fühle mich dadurch frei. Heute scheint ja unsere ganze Welt eine einzige Krankenstube zu sein, und nicht nur Corona macht krank, sondern auch die menschliche Habgier, das Streben nach äußerer Sicherheit – die enormen Rüstungsausgaben unseres Landes im letzten Jahr machen es deutlich! – das Beharren auf unserem Besitz, die wir im Vergleich zu vielen Menschen der Welt zu den Reichen gehören.
Eigentlich wissen wir ja, worauf es ankommt: „Dem Herren musst du trauen, wenn dir’s soll wohl ergehen …“ dichtete Paul Gerhardt in seinem Lied „Befiehl du deine Wege“ – in seinem schweren persönlichen Leben und im Dreißigjährigen Krieg verzweifelte er nicht und wandte sich nicht von Gott ab. Der Hauptmann von Kapernaum konzentriert sich auf dieses Gottvertrauen, und Jesus fällt, grenzüberschreitend, ein revolutionäres Urteil: einen solchen Glauben habe ich ihn ganz Israel nicht gefunden – weil ihr, ihr Juden und auch ihr Christen, immer wieder meint, ihr müsstet Gott zufriedenstellen, ihm wohl gefallen mit eurem Tun und Lassen, mit eurer Kenntnis von Bibelsprüchen und Gesangbuchversen, mit eurer Rechtgläubigkeit.
Nein, sagt Jesus – und er lebt es ja selbst vor! – vertraut Gott als dem Guten Hirten, der euch führt, euch leitet und euch Geborgenheit gibt: das ist der Grund, die Basis eures Lebens, alles Andere ergibt sich daraus! Das Vertrauen auf Gott macht heil und verbindet eure Wunden und eure Verletzungen. Wenn wir so glauben, sind wir nach Martin Luther alle „Theologen“, Menschen, die von Gott reden und erzählen und damit auch anderen helfen und beistehen können.
Wenn Vertrauen auf Gott das Fundament unseres Lebens ist, darf ich dankbar auch medizinische Fortschritte anerkennen und nutzen. Es heißt nicht, wie manche auch bei uns meinen: Gottvertrauen oder Impfungen gegen Corona, sondern: auch die Impfungen darf ich annehmen auf der Grundlage des Gottvertrauens; das eine schließt das andere nicht aus. Dieser „Ungläubige“, dieses Nicht-Kirchenmitglied aus Kapernaum wird für uns zum Vorbild, weil er den einen, entscheidenden Punkt begriffen hat: der Glaube ist keine Leistung, die belohnt wird, sondern „eine Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“, wie es im Brief an die Hebräer heißt.
Er ist ein Geschenk.
Amen
Hans-Beat Motel