Sich nicht einzwängen lassen
14.02.2021 (Estomihi) · Jesaja 58, 1-9a
14.02.2021 (Estomihi) · Jesaja 58, 1-9a
Lesung: Lukas 18, 31 – 43
Liebe Schwestern und Brüder!
Ich weiß nicht, wie es ihnen geht, aber ich fühle mich momentan ziemlich eingezwängt. Da sind die äußeren Einschränkungen: Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, nirgends kommt man hin, die Welt endet am Bildschirm oder am Telefonhörer. Und wenn man mal rauskommt, ist man eingeschränkt durch Maske, beschlagene Brille und Mütze gegen die Kälte.
Es gibt auch das gedankliche Eingezwängt-sein: Als Verantwortlicher steht man zwischen Verordnungen und Erwartungen. Als ich für letzten Freitag eine Beerdigung zu planen hatte, musste ich genau überlegen: was muss ich wo beachten, was sind die momentanen Regeln? Darf ich jetzt auf den Gottesacker singen oder nicht?
Jetzt müssen wir entscheiden, ob und wann wir Gemeindeglieder wieder leibhaftig zu den Gottesdiensten in Saal einladen können. Auf der einen Seite sind die Zahlen gut. Auf der anderen Seite besteht die Mahnung, jetzt nicht zu früh zu öffnen, damit die Mutationen keine Chance bekommen. Vor dem Dilemma stand die Politik diese Woche, davor stehen nun die Kirchen. Anders als vor Weihnachten sind sich die evangelischen Gemeinden im Kirchenbezirk nicht einig. Es gibt gute Gründe sich noch zurückzuhalten und es gibt gute Gründe wieder Begegnung von Menschen mit Abstand und Maske zu ermöglichen.
Es gibt auch Erwartungen in beide Richtungen: Lasst zu! Macht auf!
So oder so wird man Menschen enttäuschen oder möglicherweise falsche Entscheidungen treffen. Wer möchte schon die Stelle sein, wo sich die Infektion verbreitet hat, wenn Menschen krank werden und die Zahlen für einen ganzen Landkreis hochgehen. Wie soll man entscheiden, wenn man so eingezwängt ist?
Man bräuchte mehr Spielraum. Man müsste sich mehr Freiheit geben können. Der heutige Predigttext fordert dazu auf und engt zugleich ziemlich ein. Mal schauen, was er bei uns bewirkt. Er steht beim Propheten Jesaja und spricht in die Zeit nach dem Exil, als Israel in der zunehmenden globalen Einbindung innerlich unter Druck kam. Der Prophet soll im Namen Gottes mahnen.
Textlesung Jesaja 58: Das wahre Fasten
1 Ruf, so laut du kannst, halt dich nicht zurück! Lass deine Stimme erschallen wie ein Widderhorn! Halt meinem Volk seine Verbrechen vor, den Nachkommen Jakobs ihre Vergehen.
2 Sie befragen mich Tag für Tag und wollen wissen, was mein Wille ist. Als wären sie ein Volk, das Gerechtigkeit übt und das Recht seines Gottes nicht missachtet! Sie fordern von mir gerechte Entscheidungen und wollen, dass ich ihnen nahe bin. 3 Und dann fragen sie mich: Warum achtest du nicht darauf, wenn wir fasten? Warum bemerkst du nicht, wie wir uns quälen? Ich antworte: Was tut ihr denn an den Fastentagen? Ihr geht euren Geschäften nach und treibt eure Untergebenen zur Arbeit an!
4 Ihr fastet nur, um Zank und Streit anzuzetteln und mit roher Gewalt zuzuschlagen. So wie ihr jetzt fastet, findet eure Stimme im Himmel kein Gehör. 5 Meint ihr, dass ich ein solches Fasten liebe? Wenn Menschen sich quälen, den Kopf hängen lassen wie umgeknicktes Schilf und in Sack und Asche gehen? Nennst du das Fasten, einen Tag, der dem Herrn gefällt?
6 Das wäre ein Fasten, wie ich es liebe: Löst die Fesseln der zu Unrecht Gefangenen, bindet ihr drückendes Joch los! Lasst die Misshandelten frei und macht jeder Unterdrückung ein Ende!
7 Teil dein Brot mit dem Hungrigen, nimm die Armen und Obdachlosen ins Haus auf. Wenn du einen nackt siehst, bekleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Nächsten!
8 Dann bricht dein Licht hervor wie die Morgenröte, und deine Heilung schreitet schnell voran. Deine Gerechtigkeit zieht vor dir her, und die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach.
9 Dann antwortet der Herr, wenn du rufst. Wenn du um Hilfe schreist, sagt er: Ich bin für dich da!
Es scheinen sich rohe Sitten breitgemacht zu haben in dieser Zeit nach dem Exil. Die Verbannten hatten wieder heimkehren dürfen. Die Perser, die neuen Herren der Region, hatten es ihnen erlaubt. Nun sind sie wieder in Jerusalem und im Land Juda.
Aber es ist alles knapp. Die Perser verlangen Steuern. Doch die Wirtschaft muss erst wieder in Gang kommen. Da schaut nun jeder, wie er überlebt. Einige sind cleverer und schneller, nutzen die Chance und kommen zu Macht und Wohnstand. Um diesen zu sichern und zu mehren, sind sie nicht zimperlich. Andere zu opfern fällt ihnen nicht schwer. Das sind nun mal der neuen globalen Gesetze. Wer nicht mehr zahlen kann, muss Haus und Hof verpfänden oder sich selbst oder seine Familie verkaufen. Was soll’s, das ist der Markt.
Diese Skrupellosigkeit im Verhalten zu den Mitmenschen passt nicht zu den Erwartungen der Menschen an Gott. Vorn herum waren die Leute fromm, aber hinter herum gemein. Gott sagt, vorne herum und hinten herum müssen zusammen passen. Im Tempel lieb tun und sich auf der Straße mit Ellenbogen den Weg frei boxen, geht nicht. Ja, das muss passen, sagt der Prophet. Glaube und Lebens sind eins.
Man könnte einwenden: das ist doch schon eine ganze Menge. Menschen, die Gott täglich suchen. Und sogar fasten. Da kann man doch nur froh drüber sein. Was kann daran nun denn schon wieder falsch sein?
Es ist nichts falsch dran, Gottes Nähe zu suchen und wissen zu wollen, was sein Weg mit uns ist. Es ist nichts falsch dran – vorausgesetzt, dass auch der Rest stimmt. Gottesdienst, in diesem Fall Beten und Fasten, sagt der Prophet, findet nicht nur im Tempel statt, er geht weiter auf der Strasse und in den Häusern. Es geht um den Gottesdienst im Alltag der Welt.
6 Löst die Fesseln der Gefangenen, nehmt das drückende Joch von ihrem Hals, gebt den Misshandelten die Freiheit und macht jeder Unterdrückung ein Ende!
7 Ladet die Hungernden an euren Tisch, nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf, gebt denen, die in Lumpen herumlaufen, etwas zum Anziehen und helft allen in eurem Volk, die Hilfe brauchen!
Ach, ich würde mir wünschen, wir könnten da mehr tun. Es ist bedrückend, dass angesichts der Herausforderungen und der Einschränkungen durch die Pandemie dringende Probleme so wenig Aufmerksamkeit bekommen.
Immer noch ist die Flüchtlingspolitik Europas kaum weiter, immer noch hausen Geflüchtete in erbärmlichen Zuständen. Es ist bedrückend, wenn man ohnmächtig zuschauen muss, wie Kriege geführt werden am Horn von Afrika und Menschen fliehen müssen, die doch ohnehin schon nichts zu essen haben. Und selbst um die Notleidenden in unseren Dörfern und Städten konnten sich die Engagierten in diesem Jahr schlechter kümmern als sonst. Die Vesperkirche in Schwenningen konnte nicht öffnen; nur Pakete zum mitgeben waren möglich. Das ist schon bedrückend.
An dieser Stelle habe ich mich gefragt: Engt sich jetzt unser Spielraum noch mehr ein? Ist die Rede des Propheten so zu verstehen, dass Gott sich von uns zurückzieht, weil wir zurückbleiben hinter dem, was alles zu tun wäre? Geht Glaube so, dass Gott erst für uns da ist, wenn wir im geforderten Maße für unsere Mitmenschen da waren. Soll uns die Angst vor Liebesentzug Beine machen? Ist es die Absicht Gottes durch den Propheten, Menschen unter Druck zu setzen?
Ich weiß nicht, was die Absicht Gottes durch den Propheten damals vor 2500 Jahren war. Glaube aber funktioniert so nach meinem evangelischen Verständnis nicht. Genauso wenig, wie es unter Menschen zu etwas Gutem führt, einem anderen mit Liebesentzug oder gar Strafandrohung Beine machen zu wollen. Mancher erreicht so kurzfristig sein Ziel, aber gut wird es dadurch nicht.
Wie viele Kinder leiden noch Jahrzehntelang darunter, dass ihnen in der Kindheit vermittelt wurde, sie müssten sich die Liebe der Eltern erst verdienen.
Gott setzt nicht unter Druck, sondern setzt frei. Gott öffnet Räume, indem er seinen Sohn in Welt sendet. Er nimmt die Last von unseren Schultern, damit der Kopf und die Hände frei werden. Wir können leben und denken, weil uns das Leben und die Liebe geschenkt wurden, die uns frei machen.
Ich habe schon in der Predigt von zwei Wochen eine der evangelischen Fastenaktionen erwähnt. Die Aktion „7 Wochen ohne“ hat für die diesjährige Fastenzeit das Thema „Spielraum“ vorgeschlagen: „Im persönlichen Miteinander braucht es … Liebe, Gnade und Großzügigkeit. … In der Fastenzeit wollen wir erkunden, wo wir uns und andere blockieren und wie wir unseren Mitmenschen entgegen kommen können. Nicht verbissen, sondern auf … spielerische Weise.“
Auch die andere Fastenaktion einiger evangelischer Landeskirchen, möchte Spielräume eröffnen. Die Fastenaktion für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit lädt ein, jede Woche etwas Neues auszuprobieren. Die Hefte liegen zum Mitnehmen in unseren Schriftenständern und sind natürlich auch online zu finden.
Ich wünsche mir für die Entscheidungen dieser Tage, gerade wo ohnehin alles so beengt ist, dass wir sie nicht aus einem Druck heraus fällen, und dem Gefühl, eingezwängt zu sein, sondern auf dem Bewusstsein, dass wir Spielräume haben, die wir gestalten können. Und immer getragen von Gottes Gnade und in der Zuversicht, dass er da ist und uns leitet.
A m e n
Christoph Huss