Singen – Befreiung – Glaube
29.04.2018 (Kantate), Apostelgeschichte 16, 23-34
29.04.2018 (Kantate), Apostelgeschichte 16, 23-34
Singen nimmt Angst, singen befreit von Ketten, singen berührt Menschen – davon handelt der Bibelabschnitt, der für den heutigen Sonntag „Cantate“ vorgeschlagen ist.
Berichtet wird eine Begebenheit aus dem Leben des Reisepredigers Paulus. Auf seiner zweiten Missionsreise reist er zum ersten mal nach Griechenland und betritt damit europäischen Boden. In der Handelsstadt Philippi findet er und sein Begleiter Silas Aufnahme bei der gläubigen Purpurhändlerin Lydia.
Ihre Predigten erregen Aufsehen. Einer Sklavin mit hellseherischen Fähigkeiten treiben sie den Wahrsagegeist aus, wohl eine Erleichterung für sie, aber ärgerlich für ihre Besitzer.
Bisher hatten sie mit ihren Fähigkeiten gutes Geld verdient. Erbost klagen sie Paulus und Silas bei der Stadtverwaltung wegen Aufruhrs an. Diese macht kurzen Prozess und lässt Paulus und Silas gefangennehmen. Dies ist dann wohl das Ende der gerade erst begonnen Missionstätigkeit in Europa.
Hören wir Apg. 16, 23 – 34 (Basis-Bibel)
Da ließen die Stadtobersten Paulus und Silas die Kleider vom Leib reißen und befahlen, sie mit Ruten zu schlagen.
23 Nachdem man ihnen viele Schläge verabreicht hatte, ließen sie die beiden ins Gefängnis werfen. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie besonders gut zu bewachen.
24 Befehlsgemäß brachte er sie in die hinterste Zelle und schloss ihre Füße in den Holzblock.
25 Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Gott Loblieder.[1] Die anderen Gefangenen hörten ihnen zu.
26 Plötzlich gab es ein starkes Erdbeben, das die Fundamente des Gefängnisses erschütterte. Da sprangen alle Türen auf, und die Ketten fielen von den Gefangenen ab.
27 Der Gefängniswärter wurde aus dem Schlaf gerissen. Als er sah, dass die Gefängnistüren offenstanden, zog er sein Schwert und wollte sich töten. Denn er dachte: Die Gefangenen sind entflohen.
28 Aber Paulus schrie laut: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier.«
29 Der Wärter rief nach Licht. Er stürzte in die Zelle und warf sich zitternd vor Paulus und Silas nieder.
30 Dann führte er sie hinaus und fragte: »Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?«
31 Sie antworteten: »Glaube an den Herrn, Jesus, dann wirst du gerettet und mit dir alle in deinem Haus.«
32 Und sie verkündeten ihm und allen anderen in seinem Haus das Wort des Herrn.
33 Noch in derselben Nachtstunde nahm der Wärter Paulus und Silas zu sich. Er wusch ihnen die Wunden aus. Dann ließ er sich umgehend taufen und mit ihm alle, die in seinem Haus lebten.
34 Anschließend führte er die beiden in sein Haus hinauf und lud sie zum Essen ein. Die ganze Hausgemeinschaft freute sich, dass sie zum Glauben an Gott gefunden hatte.
Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder!
Das Wunder des Singens
Man hat Paulus und Silas gefoltert. Dann übergab man sie dem Gefängnisaufseher, der sie so sicher wie möglich einsperren sollte. Um ganz sicher zu gehen, schloss er ihre Füße in das Holz, wie es heißt. Unwillkürlich muss man bei diesem Wort an einen anderen denken, der gefangengenommen wurde und dessen Leib auch ans Holz geheftet wurde.
Paulus und Silas können nicht schlafen. In der Tiefe der Nacht fangen sie an Loblieder zu singen. Das ist eine alte Sitte bei den Juden. Vermutlich war bei den Tempelmitarbeitern, den Leviten, eine Art Nachgebet üblich.
In Psalm 134 heißt es:
Wohlan, lobet den HERRN, alle Knechte des HERRN, die ihr steht des Nachts im Hause des HERRN!
Andere haben sich diesem Nachgesang angeschlossen.
Psalm 42,9: Am Tage sendet der HERR seine Güte, und des Nachts singe ich ihm und bete zu dem Gott meines Lebens.
Oder Hiob 35,10: »Wo ist Gott, mein Schöpfer, der Lobgesänge gibt in der Nacht.“
Gott gibt Paulus und Silas Lobgesänge in der Nacht. Sie beten zu Gott mit ihnen bekannten Hymnen, Lobliedern, vielleicht Psalmen, vielleicht Lieder der jungen Christengemeinde[2]. Sie singen ihren Schmerzen, ihrer aussichtslosen Lage, der Dunkelheit zum Trotz.
Es gibt Situationen, da macht man dankbar Gebrauch von dem, was man einmal gelernt hat, gibt sich hinein, leiht sich die die Worte anderer und lässt sich tragen von dem Glauben der Gemeinschaft. Der Glaube lebt nicht nur von den eigenen Erfahrungen, sondern schöpft auch Kraft aus den Erfahrungen der Menschen vor uns und um uns, wie sie etwa in den Liedern aufgehoben sind. Im Singen öffnet sich der Blick zu Gott, der Wege kennt aus der Not und dem die Zukunft gehört.
Die anderen Gefangenen hören Paulus und Silas singen. Sie hören zu. So etwas hört man nicht oft im Gefängnis. Da singen zwei Gefolterte im Hochsicherheitstrakt von Gottes Größe und Güte.
Dass sie gesungen haben, ist für mich das erste Wunder in dieser Geschichte
Das zweite erleben sie nun.
Das Wunder der Befreiung
Da, was sich ereignet, scheint zusammenzuhängen mit dieser Größe Gottes, von der sie singen. Die Erde bebt. Das ganze Gebäude wird erschüttert. Die Türen springen aus den Angeln. Dass sich auch noch die Fesseln der Gefangenen lösen, lässt einen wirklich an ein Eingreifen Gottes denken.
Auch der Gefängnisaufseher ist aus dem Schlaf hochgeschreckt. Er greift sein Schwert und eilt in den Trakt mit den Zellen. Im Schein der Fackeln auf den Fluren sieht er, dass die Türen offen sind. Er muss davon ausgehen, dass die Betrüger, Diebe, Mörder und die politischen Gefangenen getürmt sind und schon dabei sind, in der Stadt zu plündern. Man wird ihm die Schuld geben. In der Verwirrung und Verzweiflung will er das Schwert in seiner Hand gegen sich selbst richten.
Doch wo die Not am höchsten ist, ist die Hilfe nicht fern.
Laut ruft Paulus: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier.«
Der Aufseher erstarrt vor Verwirrung.
Er lässt sich von den herbeieilenden Hausbewohnern eine Fackel geben. Wirklich, sie sind noch alle da.
Mehr als das Erdbeben erschüttert ihn das Verhalten der Gefangenen. Er spürt, dass hier ein Höherer am Werk ist. Er stürzt hinein zu Paulus und Silas, wirft sich vor ihnen auf den Boden. Dann bringt er sie hinaus aus dem beschädigten Gebäude auf den Hof und fragt seine Gefangenen: „Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?“
Wo ein Mensch so erschüttert wird, wo das Leben so auf der Kippe steht, fragt sich ein Mensch:
Viele andere haben so gefragt. Der reiche Jüngling, die Zeugen der Pfingstpredigt, Martin Luther, nachdem ihn ein Gewitter überrascht hatte.
Ist unserer Zeit die Frage wirklich so fremd? Können wir uns vorstellen, dass einmal alle Sicherheit wegbricht? Dass nichts mehr ist, wie es war, dass der Boden unter unseren Füssen wankt, wir zu versinken drohen und uns fragen: Was muss ich tun, damit ich gerettet werde?
Paulus und Silas geben dem Aufseher eine knappe und klare Antwort:
Sie antworteten: »Glaube an den Herrn, Jesus, dann wirst du gerettet und mit dir alle in deinem Haus.«
Die beiden Apostel weisen ihn auf den auferstandenen Jesus hin.
Er wurde aus dem Tod gerettet und kann den retten, der oder die ihm vertraut.
Auch er stimmt Psalmen an Kreuz[3], am Holz. Auch bei seinem Tod und Auferstehung wurde auch die Erde in ihren Grundfesten erschüttert, Vorhänge zerrissen und Türen sprangen auf. Er hat den Geistern im Gefängnis der Unterwelt gepredigt. In ihm sind Tod und Hölle besiegt, die Ketten zerspringen.
Ich glaube, liebe Schwestern und Brüder, dass es kein Zufall ist, dass in der Art, wie Lukas von diesem Geschehen berichtet, immer wieder Anklänge an Passion und Ostern zu finden sind.
Ich denke, es liegt daran, dass hier der Auferstandene bezeugt wird und dass er hier am Werke ist. Es ist wahrlich eine Ostergeschichte.
Durch seinen Geist ist er auch am Werk in dem Menschen, um den es in dieser ganzen Geschichte geht: den Gefängnisaufseher, oder Kerkermeister, wie man früher sagte. An ihm geschieht das dritte Wunder, nach dem Wunder des Singens und dem Wunder der Befreiung, nun das Wunder das Glaubens.
Das Wunder des Glaubens
Paulus und Silas sprechen mit denen, die dort zu nächtlicher Stunde zusammengelaufen sind, mit allen, die im Gebäude wohnen. Sie sprechen von dem, was Christus bedeutet. Ganz schnell entsteht ein Verstehen, eine Gemeinschaft im Glauben.
Der Kerkermeister holt die Gefolterten zu sich und wäscht erst einmal ihre Wunden. Mitten in der Nacht verbreitet sich das Licht des Verstehens und der Liebe, Evangelium wird verkündet, Wunden werden versorgt. Und wo nun das reinigende Wasser schon zur Hand ist, lässt sich der Kerkermeister mit seinem ganzen Hause taufen.
Im Griechischen ist das ein Satz:
Er wusch ihnen die Stiemen und ließ sich sogleich taufen, sich und die Seinen.
Das Wort sogleich kam schon einmal vor in dieser Nacht: Als die Erde bebte und sich sogleich die Türen auftaten.
Hier wie dort gibt Gott eins nach dem anderen.
Welch eine Reinigung, welche eine neue Geburt, welch ein neuer Tag, mitten in der Nacht. Welch eine Osternacht! Diese Nacht ging keiner mehr schlafen.
Der Kerkermeister, so schildert Lukas wunderschön, deckte ihnen den Tisch im Obergemach und jubelte („freuen“ ist zu wenig für agalliaomai) mit allen Bewohnern des Hauses, weil er zum Glauben an Gott gekommen war. Der Mann ist ganz aus dem Häuschen.
Er ist gerettet, sein Leben hatte die entscheidende Wendung genommen. Das neue Leben wird im gemeinsamen Essen, im Danken und Loben gefeiert.
Der Rest der Geschichte sei nur der Vollständigkeit halber erzählt.
Am nächsten Morgen ließ die Stadtverwaltung die beiden Gefangenen frei, man entschuldigte sich für die Folterung, denn eigentlich darf man römische Bürger – und als solche geben sich Paulus und Silas zu erkennen – nicht schlagen.
Sie wurden höflich gebeten, die Stadt zu verlassen. Man kam noch einmal bei Lydia zusammen, sah sich erleichtert an, erzählte, tröstete und stärkte sich.
Dann zogen die beiden weiter. Die Missionstätigkeit in Europa hatte erst begonnen. Die Christengemeinde Philippi blieb Paulus immer besonders verbunden.
Gerne hätten wir gewusst, was aus dem Aufseher geworden ist. Leider erfahren wir nichts darüber. Aber wir erfahren etwas darüber, wie Gott wirkt, das Wunder des Singens, das Wunder der Befreiung, das Wunder der Rettung.
Was für eine wundersame und wunderbare Geschichte, eine Geschichte zwischen Ostern und Pfingsten, in der der Auferstandene gepredigt wird und wirkt, der Heilige Geist neues Leben schenkt und Menschen zu Glauben an Gott finden.
Mitten in einer Nacht, die schwirrt von Gesang.
A m e n
Christoph Huss, Königsfeld
[1] Übersetzung entspricht dem griech. Text besser als Luther. … προσευχόμενοι ύμνουν τόν θεον = dankten lobsingend Gott
Hümnos = Lobgesang, Festlied, Hymne
[2] Einige Lieder fanden Aufnahme in das Neue Testament, etwa der Philipperhymnus, Phil 2
[3] Auch Jesus hat sich in der Todesnot an die Psalmen gehalten.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen.“ Ps 33. Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Ps 31
Foto: zvg.